Eröffnung des Ersten Vatikanischen Konzils durch Pius IX.

150 Jahre Erstes Vatikanum: Das Ringen um die päpstliche Unfehlbarkeit

Veröffentlicht am 08.12.2019 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Rom ‐ Mit der Festlegung der Unfehlbarkeit des Papstes ging das Erste Vatikanische Konzil in die Geschichte ein. Doch der Weg dahin war lang, beschwerlich – und von Konflikten begleitet.

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Ökumenische Konzilien sind für die katholische Kirche von großer Bedeutung. Nicht nur, weil hier über Fragen der verbindlichen Lehre der Kirche diskutiert und entschieden wurde. Es ging auch um die Rivalität zwischen päpstlicher und konziliarer Führung der Kirche an sich. Als sich die 791 Teilnehmer am 8. Dezember 1869 zu einem weltweiten, dem bis dahin größten und nach römischer Zählung 20. Ökumenischen Konzil in Rom einfanden, gab es bereits Gerüchte, dass Papst Pius IX. einen einmaligen Schritt kirchlicher Machtentfaltung vollziehen könnte: die dogmatische Festlegung der päpstlichen Unfehlbarkeit.

Der Gedanke einer päpstlichen Unfehlbarkeit, so der Kirchenhistoriker Bernward Schmidt, war grundsätzlich nicht neu und bestand bereits seit dem 14. Jahrhundert. Er entfaltete sich besonders in der Zeit nach dem Trienter Konzil (1545-1563). Der Theologe Robert Bellarmin wies dem Papst dann im 16. Jahrhundert die alleinige Entscheidungskompetenz in lehramtlichen Glaubensfragen zu. Jedoch durfte sich das Kirchenoberhaupt dabei nicht allein auf sich verlassen, sondern konnte etwa ein Konzil als Mittel zur Wahrheitsfindung wählen. Gleichzeitig festigte sich ein Bild von der Kirche, das auf einer hierarchisch strukturierten Papstkirche aufbaute. Der französische Adelige Joseph de Maistre verstand im Übergang zum 19. Jahrhundert unter päpstlicher Unfehlbarkeit die rechtlich gefasste Entscheidungskompetenz des Papstes. Er orientierte sich an der Souveränität eines absolutistischen Fürsten. Unter den gallikanischen Theologen in Frankreich dagegen gab es seit 1682 die weit verbreitete Ansicht, dass ein Konzil dem Papst übergeordnet sei. Die Vollmacht des Papstes sei durch eine allgemein in der Kirche anerkannte Rechtssetzung geregelt.

Ein volkstümlicher Papst ist geschwächt

Neben dieser zunächst allgemeinen Debatte über die Macht- und Entscheidungskompetenz in Glaubensfragen der Kirche war schließlich das konkrete Pontifikat Papst Pius' IX. ausschlaggebend für die umstrittene Frage nach der Definition einer päpstlichen Unfehlbarkeit. Es war nicht nur das längste Pontifikat bisher. Der Papst erfreute sich unter Katholiken auch großer Beliebtheit und volkstümlicher Popularität. Allein kraft seiner päpstlichen Vollmacht erhob er die Unbefleckte Empfängnis Mariens 1854 zum Dogma – und nahm so im Grunde schon die lehramtliche Festlegung der päpstlichen Unfehlbarkeit vorweg. Politisch allerdings war der Papst zu dieser Zeit ausgesprochen geschwächt und durch Einigungskämpfe in Italien bedrängt. Diese Notlage rief ultramontane Anhänger im restlichen Europa auf den Plan.

Bild: ©KNA

Pius IX. wurde als Sohn der gräflichen Familie Mastai-Ferretti am 13. Mai 1792 in Senigallia geboren. Er war von 1846 bis zu seinem Tod am 7. Februar 1878 Papst.

Das von Pius IX. am 26. Juni 1867 angekündigte Konzil, so der Kirchenhistoriker Hubert Wolf, war schließlich ein Reflex auf die Umbrüche des 19. Jahrhunderts. Infolge der Französischen Revolution und entgegen der aufklärerisch liberalen Gedanken stand das Erste Vatikanische Konzil in der Tradition der vorhergehenden Konzilien. Dort war der Wahrheitsanspruch gegenüber empfundenen Zeitirrtümern nachdrücklich manifestiert worden. Diese "Irrtümer" wie Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit oder auch die Volkssouveränität hatte Papst Pius IX. noch 1864 in bewusster Ablehnung der Moderne in einem sogenannten Syllabus zusammengefasst und verurteilt. Das bevorstehende Konzil sollte die kirchliche Disziplin bekräftigen und die Auflistung der "Irrtümer" allgemein bestätigen.

Bereits im Dezember 1864 hatte Papst Pius IX. die Idee eines Konzils entwickelt und anschließend eine vorbereitende Zentral- und fünf Sachkommissionen eingerichtet. Die erarbeiten 65 Dekretentwürfe – unter anderem mit dem Vorschlag, die kirchliche Lehrautorität auf die Tagesordnung zu setzen und den Katechismus zu vereinheitlichen. Schließlich und nicht zuletzt aufgrund der theologischen Debatte drängte sich die Frage der päpstlichen Unfehlbarkeit für das Konzil auf.

Kritiker aus Frankreich und Deutschland

Zu den Kritikern zählten vor allem die deutschsprachigen und französischen Theologen, die bereits von der Aufklärung beeinflusst waren. Sie lehnten eine Zuspitzung päpstlicher Autorität in der Glaubenslehre ab. Einer ihrer Wortführer war der angesehene deutsche Theologe Ignaz Döllinger. Verschärft wurde diese Gemengelage durch einen Artikel vom 6. Februar 1869 in der Jesuitenzeitschrift "Civilitá Cattolica", in dem von der Dogmatisierung der Unfehlbarkeit des Papstes per Akklamation die Rede war. Der Artikel erzeugte einen Eklat und verschärfte die Haltung der Kritiker.

Nachdem das Konzil Ende Juni 1868 einberufen worden war, tagte die Kirchenversammlung erstmals im Folgejahr am 8. Dezember in einer Seitenkapelle des Petersdoms. Papst Pius IX. als Befürworter des Unfehlbarkeitsgedankens wusste eine deutliche Mehrheit – rund 80 Prozent – der Konzilsväter hinter sich. Untern ihnen waren vor allem Spanier, Lateinamerikaner und Italiener. Einer der Hauptwortführer war jedoch der englische Erzbischof Henry Edward Manning (Westminster). Ihnen allen ging es um die Stärkung der päpstlichen Autorität und um die Profilierung gegenüber liberalen Kräften. Zur Minderheit zählten deutschsprachige, ungarische, französische sowie nordamerikanische Bischöfe und Kardinäle. Sie wollten eine Rückbindung der Unfehlbarkeit an die Kirche: Der Papst sei nicht unfehlbar, wenn er aus eigenem Antrieb definiere, sondern nur, wenn er Rat und Hilfe der Gesamtkirche in Anspruch nehme, war ihre Ansicht. Wortführer waren die deutschsprachigen Bischöfe wie Wilhelm Emmanuel von Ketteler (Mainz) und Karl Joseph von Hefele (Rottenburg) sowie die Franzosen Georges Darboy (Nancy) und Félix Dupanloup (Orléans). Mit Verlauf des Konzils verlegten sie sich auf eine Fundamentalopposition und nutzten die öffentliche Berichterstattung in ihrem Sinne.

Der Petersdom in Rom im Abendlicht
Bild: ©Cristiano Gala - stock.adobe.com

Der Ort des Konzils: Der Petersdom in Rom.

Während des Konzils nahmen die Teilnehmer letztlich lediglich zwei Dekrete an. So wurde am 24. April 1870 die dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben "Dei filius" verabschiedet. Für nachfolgende Theologengenerationen war diese Lehre von der Schöpfung, dem Offenbarungsverständnis sowie dem gehorsamen Glaubensakt gegenüber dem kirchlichen Lehramt maßgeblich. Den sogenannten Zeitirrtümern stand das Dokument ebenfalls kritisch gegenüber. Es verurteilte Atheismus, Materialismus, Pantheismus und Rationalismus. Nicht weiter behandelt wurden auf Drängen der Konzilsväter Fragen zur Dreifaltigkeit sowie zur Erschaffung, zum Fall und zur Erlösung des Menschen. Aufgrund des eskalierenden Konflikts zwischen Deutschland und Frankreich 1870 wurde auch die Lehre über die Kirche nicht ausführlicher thematisiert. In einem entsprechenden Dekret hätte allerdings die Rolle des Papstes eingebettet werden sollen.

Ein separates Kapitel

Das Kapitel über die Unfehlbarkeit wurde daher separat vorgezogen und heftig diskutiert. Die radikalen Verfechter standen der kleineren Minderheit unversöhnlich gegenüber, während die Mehrheit von Gemäßigten um einen Kompromiss rang. Bei der vorläufigen Schlussabstimmung am 13. Juli 1870 stimmten von den 601 anwesenden Konzilsvätern allein 88 mit Nein und 62 mit dem Wunsch nach Änderungen, 50 waren erst gar nicht erschienen. Dies bewirkte, so der Konzilsexperte Klaus Schatz, bei der Konzilsleitung und beim Papst jedoch eher "Verhärtung statt Nachgiebigkeit". Papst Pius IX. lehnte den Antrag auf Verschiebung der Endabstimmung und Wiederaufnahme der Diskussion ab und setzte der Debatte damit ein entschiedenes Ende. Er war überzeugt: Unfehlbare Definitionen des Papstes seien aus sich heraus, nicht aufgrund des Konsenses der Kirche unfehlbar.

Bild: ©Andreas Kühlken/KNA

Die Mehrheit der deutschen Konzilsteilnehmer war gegen die päpstliche Unfehlbarkeit, glaubt Hubert Wolf.

Nachdem sich die Niederlage der Minderheit abgezeichnet hatte, reisten nach dem harschen Durchgreifen des Papstes 57 deutsche Bischöfe vorzeitig ab. Sie zogen diesen Schritt vor, um nicht in Anwesenheit des Pontifex gegen die Dogmatisierung stimmen zu müssen. Diese Ablehnung teilten die "Mehrheit" der deutschen Theologen und eine "Vielzahl vor allem gebildeter Katholiken", wie Hubert Wolf es einschätzt. Die Dogmatisierung der Unfehlbarkeit des Papstes wurde schließlich mit 535 Stimmen angenommen – bei nur zwei Gegenstimmen.

Im höchsten Maße bedeutsam für die weitere kirchliche Machtarchitektonik sollte diese zweite Konstitution "Pastor aeternus" werden, die am 18. Juli 1870 – wie es hieß bei schrecklichem Unwetter mit Donner und Blitz über Rom und nasser, lehmverschmierter Konzilsaula – verabschiedet worden war. Hier wurde die universale Jurisdiktionsgewalt des Papstes über alle Gläubigen und Hirten der Kirche manifestiert. Danach konnte er als höchster Richter und mit höchster Vollmacht Entscheidungen zur Glaubenslehre, Ethik und zu kirchlicher Disziplin treffen. Ebenfalls wurde die päpstliche Unfehlbarkeit definiert. Unfehlbar ist er demnach unter drei Voraussetzungen: wenn er "ex cathedra", also in Ausübung seines Amtes als Hirte und Lehrer aller Christen, spricht; wenn er es kraft seiner höchsten apostolischen Autorität tut; und wenn er eine Glaubens- oder Sittenlehre verkündet, die von der ganzen Kirche festzuhalten sei.

Zur Behandlung weiterer theologischer Themen kam es nicht mehr. Nach der Verkündigung erhielten die Konzilsväter bis zum 11. November Urlaub, während sich gleichzeitig die politischen Rahmenbedingungen änderten. Mit Ausbruch des deutsch-französische Krieges am 19. Juli 1870 zog Napoleon III. seine in Rom zum Schutz gelassene Truppen ab. Rom wurde daraufhin am 20. September von piemontesischen Truppen eingenommen. Der Kirchenstaat hörte faktisch auf zu existieren. Die Konzilsväter reisten ab und Pius IX. blieb nichts anderes übrig, als das Konzil "sine die" – auf unbestimmte Zeit – zu vertagen.

Die Folgen des Ersten Vatikanums waren weitreichend. Für viele kritische Zeitgenossen folgte eine schwere Phase, da Theologen ihren Lehrstuhl verloren, wenn sie das Dogma ablehnten und die abtrünnigen Bischöfe sowohl unter Druck als auch um der Einheit der Kirche willen zur Annahme gezwungen wurden, so Hubert Wolf. In gleichem Zuge sei innerkirchlich "der Zentralismus (…), systematisch vorangetrieben und gleichzeitig der Ultramontanismus durchgesetzt" worden, so der Kirchenhistoriker Franz Xaver Bischof. Weniger folgenschwer war seither die Entscheidung der Dogmatisierung der Unfehlbarkeit selbst. Lediglich durch Papst Pius XII. 1950 gab es eine einzige "unfehlbare" Glaubensentscheidung: die leibliche Aufnahme der Gottesmutter Maria in den Himmel. In der Konsequenz dieser Festlegung während des Ersten Vatikanischen Konzils jedoch folgte ein bis in die Gegenwart nachwirkendes Schisma der katholischen Kirche: Ab 1872 kam es zur Gründung erster Gemeinden der Altkatholischen Kirche. Ihr erster deutscher Bischof, Josef-Hubert Reinkens, wurde am 11. August 1873 von Bischof Hermann Heykamp (Deventer) von der alt-katholischen Kirche der Niederlande geweiht. Wirkungsvoll entfaltete sich hingegen der universale Jurisdiktionsprimat des Papstes. Er sollte in den folgenden Jahren stets gefestigt bleiben und seinen Niederschlag in kirchlichen Gesetzbüchern finden. Papst Pius IX. verbrachte hingegen durch die politischen Umbrüche sein Lebensende bis zu seinem Tod am 7. Februar 1878 als Gefangener im Vatikan in einem untergegangenen Kirchenstaat.

Von Simon Oelgemöller