Wie sich Gottesdienste für Menschen mit Demenz gestalten lassen
Mitten in der Wort-Gottes-Feier durchtönt ein lautes Krächzen die Kapelle. Das Geräusch kommt aus dem Mund von Frau Meyer. Ihr ganzes Leben lang war die 95-Jährige fromm, ging jeden Sonntag in die Kirche. Noch heute besucht sie die Kapelle im Altenheim gerne, auch wenn sie selbst im Rollstuhl sitzt, Augen und Gehör immer schlechter werden und sie in den Gottesdiensten manchmal einschläft. Jetzt aber ist sie wach und singt nicht ganz verständlich "Halleluja" – als einzige, denn im Gottesdienst wird gerade gar kein Lied gespielt. Bis zum Schlusssegen singt sie weiter. Und niemand hindert sie daran, Gott auf ihre Art zu loben. Denn Frau Meyer ist demenzkrank.
Auch wenn das ein fiktives Beispiel ist – so geht es vielen Menschen mit dieser Krankheit. Als Demenz wird in der Medizin der andauernde oder fortschreitende Zustand bezeichnet, bei dem die Fähigkeit des Gedächtnisses, des Denkens und des Gehirns allgemein durch organische Veränderungen beeinträchtigt wird. Laut Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft leben heute rund 1,7 Millionen Menschen in Deutschland mit einer Demenzerkrankung. Bis 2050 könnte diese Zahl aufgrund der steigenden Lebenserwartung sogar auf drei Millionen Menschen erhöhen, prognostiziert die Gesellschaft. Auch die Besucher des Sonntagsgottesdienstes werden heute immer älter. Allein aus Altersgründen ist das Thema Demenz daher wichtig für die Kirche – und das schon heute.
"Wenn jemand sagt: 'In unserer Gemeinde gibt es keine Menschen mit Demenz.' Dann kann man nur sagen: 'Das stimmt nicht'", betont Elmar Trapp, Beauftragter für die Altenheimseelsorge im Stadtdekanat Köln. Menschen mit Demenz seien selbstverständlicher Teil der Gemeinde, egal ob sie in Altenheimen oder in ihren eigenen Wohnungen und Häusern lebten. Daher müssten Gottesdienste eigentlich so gestaltet werden, dass alle Menschen etwas mitnehmen könnten. "Das Ziel sollte sein, dass Menschen mit Demenz so lange wie möglich am Gemeindegottesdienst teilnehmen können", sagt auch Maria Kotulek, Fachreferentin für Demenz im Erzbischöflichen Ordinariat München.
Gerade in der ersten Phase der Krankheit könnten die Betroffenen das auch ohne größere Probleme tun und dem Geschehen folgen. Je weiter die Krankheit aber fortschreite, desto häufiger blieben Demenzkranke und Angehörige dem Gottesdienst fern. Die üblichen Sonntagsmessen seien schlicht zu lang, als dass sie ihnen die gesamte Zeit aufmerksam folgen könnten. Und die Angehörigen schämten sich mitunter für das auffällige Verhalten, das mit der Krankheit einhergehe. "Gottesdienste speziell für Demenzkranke nehmen den Druck raus – allen geht es gleich, und wenn sich jemand anders verhält, ist das kein Problem", sagt Kotulek. Aus diesem Grund haben sich in einigen Bistümern bereits Gottesdienstformen entwickelt, die sich an Demenzkranke richten und häufig auch "Vergiss-mein-nicht-Gottesdienste" genannt werden.
Feiern sollen nicht kindlich oder trivial sein
Wie aber lassen sich solche Feiern gestalten? Man müsse das Rad nicht neu erfinden, sondern könne auf Bekanntes setzen, sagt Trapp. Auch Kotulek ist es wichtig, den klassischen Gottesdienstablauf beizubehalten: "Wenn ein Mensch mit Demenz Kirchgänger war, kennt er den Ablauf. Es würde ihn verwirren, wenn ich das Vaterunser plötzlich an eine andere Stelle setze." Kurz und einfach sollten die Gottesdienste daher sein. "Wir wollen möglichst elementar, aber nicht kindlich und lebensnah, aber nicht trivial sein", fasst Trapp zusammen. Wenn man die Gottesdienste zu sehr vereinfache, fühlten sich die Menschen mit und ohne Demenz nicht ernstgenommen. Gottesdienste für Menschen mit Demenz seien nicht einfach Kindergottesdienste.
Da im Alter vor allem Gehör und Sehsinn nachlassen, sollten im Gottesdienst auch die anderen Sinne angesprochen werden. Es bietet sich zum Beispiel an, Weihrauch oder andere Düfte zu verwenden. Außerdem können unter dem Besuchern auch Gegenstände zum Ertasten herumgegeben werden, die zum Thema des Gottesdienstes passen: im Advent zum Beispiel einen Tannenzweig, zu Ostern eine stachelige Dornenkrone oder ein Schafsfell, wenn man vom guten Hirten spricht. Dabei sollte man es aber nicht übertreiben, um nicht vom eigentlichen Inhalt des Gottesdienstes abzulenken. Beim Erntedank-Gottesdienst ist es deswegen besser, einen einzelnen Apfel herumzugeben, als einen ganzen Obstkorb mitzubringen.
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Länger als 30 Minuten sollte ein Gottesdienst nicht sein – egal ob Messe oder Wortgottesdienst. Das bedeutet, nur einen Bibeltext als Evangelium zu nehmen, der nach Möglichkeit bekannt und erzählerisch ist und die Lesung stattdessen lieber wegzulassen. Auch die Predigt sollte kurz sein. Die Menschen brauchten etwas Aufbauendes und Stärkendes. "Für die Zielgruppe Menschen mit Demenz und Angehörige gilt: Zuspruch, Zuspruch, Zuspruch", sagt Kotulek. Dazu passen Einzelsegnungen für die Demenzkranken und die Angehörigen genauso wie ein Gespräch nach dem Gottesdienst.
Wenn man Gottesdienste aktiv gestaltet, kommt auch störendes und sogenanntes herausforderndes Verhalten viel seltener vor. Die Besucher fühlen sich dann eher wohl und erinnern sich vielleicht sogar an andere Momente in der Kirche. Sie kommen zur Ruhe und schlafen manchmal sogar ein. "Das ist aber kein Problem", sagt Trapp. Falls doch mal jemand in der Kirche aufsteht oder andauernd dazwischenredet, rät Kotulek, humorvoll zu reagieren und es in den Gottesdienst einzubinden. "Ah, da ist jemand, der singt gerne mit. Kein Problem, tun Sie das nur", nennt Kotulek als Beispiel.
In Zukunft in jedem Pfarrverband
Gottesdienste für Menschen mit einer Demenzerkrankung sollten ein Experimentierfeld sein. "Man muss sich etwas trauen und sollte nicht überfromm sein. Es sollt aber ordentlich und würdig bleiben", sagt Trapp. Was und wie viel letztlich bei den Demenzkranken ankommt, weiß man nicht. Und das ist auch nicht entscheidend. "Vielleicht ist es auch 'nur' der Gedanke: Gott vergisst uns nicht, auch wenn wir alles vergessen", sagt Trapp. Solche Gottesdienste könnten in Zukunft auch in einem Pfarrverband als Sonntagsgottesdienst mit bekannten Liedern und einem Einzelsegen am Schluss angeboten werden, finden die Seelsorger. Daran hätten auch Menschen ohne Demenz ihre Freude. Diese Feiern können als Wortgottesdienste auch von Ehrenamtlichen geleitet werden.
Kindergartenkinder können ebenfalls bei Gottesdiensten mit Demenzkranken mitfeiern. Sie singen dann beispielsweise selbst ein paar Lieder und bringen eine Bastelei mit, die zum Thema des Gottesdienstes passt. Kotulek habe dabei bereits die Erfahrung gemacht, dass das eine tolle Wirkung auf die Demenzkranken habe. "Die Kinder stecken Menschen mit Demenz an. Die beginnen dann plötzlich mitzuklatschen, mitzusingen und sich mitzubewegen", sagt sie. Man müsse aber aufpassen, sich bei der Gestaltung und der Predigt nicht nur auf die Kinder zu beziehen.
Auch in den anderen Gemeindegottesdiensten sollten Demenzkranke sich willkommener fühlen, findet die Theologin. Für die Zukunft hat sie daher ein konkretes Anliegen: "In den Achtzigern und Neunzigern haben sich noch alle umgedreht, wenn ein kleines Kind im Sonntagsgottesdienst geschrien hat. Heute ist das kein Problem mehr. Das wünsche ich mir auch für Menschen mit Demenz."