Sozialethiker Vogt: Das muss die Kirche gegen ihre Machtkrise tun
Ohne Macht kein Handeln – das gilt für die Kirche genauso wie für alle anderen sozialen Systeme. Doch der Machtbegriff ist wegen seines Missbrauchs in Verruf geraten. Der Münchner Sozialethikprofessor Markus Vogt plädiert dafür, das Thema in der Kirche neu zu beleuchten, andere Machtmodelle heranzuziehen und altbewährte Prinzipien wiederzuentdecken.
Frage: Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer hat mit der Aussage für Aufsehen gesorgt, der Machtmissbrauch liege in der DNA der Kirche. Teilen Sie diese Einschätzung, Herr Vogt?
Vogt: Das war natürlich schon sehr zugespitzt formuliert, aber im Grunde genommen kann man es schon so sagen. Der Kern des christlichen Glaubens hat mit Vertrauen in die Macht Gottes zu tun. Das Machtgefälle zwischen der absoluten Macht Gottes und der Ohnmacht des Individuums wird repräsentiert durch Vertreter der Kirche. Deshalb sind die Gläubigen immer sehr stark verletzbar. Die Möglichkeit eines vielschichtigen, auch latenten Machtmissbrauchs, der die Rede von Gott instrumentalisiert, um Macht über Menschen zu haben, ist ständig gegeben. Aus dieser Gefahr kommt die Kirche nicht raus, daher muss sie sehr sensibel und vorsichtig mit ihrer Macht umgehen.
Frage: Wie viel Macht hat die Kirche überhaupt noch?
Vogt: Es gibt im Moment sowohl eine Machtfülle als auch eine Machtlosigkeit in der Kirche, nach innen und nach außen. Einerseits ist die Kirche immer noch ein sehr hierarchisches System. Man braucht sich nur den Papst ansehen: Es gibt heute ansonsten kaum einen Herrscher, der noch mit einer so umfassenden Macht ausgestattet ist. Durch die Medien wird seine weltweite Präsenz in historisch neuer Weise verstärkt. Andererseits verflüchtigt sich die Macht der Kirche zunehmend, zwischen Anspruch und Realität klafft ein tiefer Graben: Die Gläubigen lassen sich beispielsweise in moralischen Fragen nicht mehr alles vorgeben und orientieren sich nicht selten anders. Es gibt in der Kirche gewissermaßen ein inneres Schisma – und der Klerus hat keine Handhabe dagegen.
Frage: Der Machtbegriff ist in der Kirche vor allem durch seinen Missbrauch in Verruf geraten. Aber an sich ist Macht ja nichts Negatives. Jeder, der ein Amt hat, übt Macht aus…
Vogt: Macht hat zwei Seiten, sie ist immer ambivalent. Wir verbinden mit ihr einerseits Herrschaft, Stärke und Einfluss, andererseits Machtwahn oder Erfahrungen von Machtlosigkeit. Sie hat immer eine positive und eine negative Seite, sie ist Potenzial und Gefährdung zugleich. Man kann die Schattenseiten der Macht aber nur bändigen, wenn man auch ihre guten Seiten in den Blick nimmt. Ohne sie kann man keine menschlichen Beziehungen und kein menschliches Handeln verstehen. Handeln bedeutet, die Macht zu haben, Ziele zu erreichen. Der anarchische Slogan wie "Keine Macht für niemanden" verkennt, dass Macht allgegenwärtig ist. Ohne Macht kann man nichts gestalten – aber sie muss eingehegt und ausbalanciert werden, um nicht unkontrollierbar zu werden.
Frage: Gibt es in der Kirche Beispiele für "positive" Macht?
Vogt: Natürlich. In der Kirche funktioniert immer noch sehr viel über Vertrauen, das im Glauben gründet und verlässliche Zusammenarbeit ermöglicht. Es gibt unglaublich viele vorbildliche Priester, die ihr Amt wirklich als Dienst verstehen und dabei auch eine große Demut an den Tag legen. Die Kirche könnte ja überhaupt nicht existieren, wenn es nicht Tausende Menschen gäbe, die positiv ihre Macht gebrauchen. Ihnen geht es nicht um die Durchsetzung des eigenen Willens, sondern um die Sorge für die ihnen anvertrauten Menschen.
Frage: Welche Formen der Machtausübung bräuchte es generell in der Kirche, damit sie wieder mehr Vertrauen genießt?
Vogt: Da ist in meinen Augen das Machtmodell von Hannah Arendt wegweisend, sprich Macht durch Kommunikation und Verständigung herzustellen. Das bedeutet auch, dass man offen mit Konflikten umgeht, dass es die Möglichkeit einer Auseinandersetzung auf Augenhöhe gibt.
Linktipp: Ackermann und Wilmer kritisieren Machtmissbrauch in Kirche
Kurz vor dem Anti-Missbrauchsgipfel im Vatikan haben die Bischöfe Stephan Ackermann und Heiner Wilmer Machtstrukturen und Machtmissbrauch in der Kirche kritisiert. Auch die Macht, die im Priesteramt verdichtet sei, dürfe man nicht "spirituell wegreden".Frage: Wie könnte sich das konkret niederschlagen?
Vogt: Wir haben eine zu große Machtballung bei den Bischöfen. Dabei wäre gerade in diesem verantwortungsvollen Amt eine angemessene Gewaltenteilung essenziell, um vor Selbstüberforderung zu schützen. Ein Beispiel wäre, Aufgaben und Posten nach Qualifikation zu teilen, wie es jetzt in München gemacht wurde: Dort leitet eine Frau das Ordinariat, der Generalvikar ist von Verwaltungsfragen entlastet und kümmert sich um die inhaltlichen und theologischen Fragen. Grundsätzlich gilt es auf jeder Ebene der Kirche, den Laien mehr Kompetenz zuzugestehen.
Frage: Wenn wir von Teilung der Macht sprechen: In welchem Maße ist die Kirche demokratisierbar?
Vogt: In der Kirche ist die Macht immer gedacht als eine Macht, die sich von Christus her definiert. Damit kann sie im strengen Sinne also nie demokratisch sein. Aber durch die Taufe hat jeder Christ Anteil an Christus, und daher auch am Priestertum aller Getauften. Daher gibt es viel mehr Möglichkeiten, Mitbestimmung in der Kirche zu ermöglichen. Man muss natürlich nicht alles in Gremien ausdiskutieren, aber man muss das Gefühl haben, dass fair mit der Macht umgegangen wird. Eine "heilsame Dezentralisierung", wie sie Papst Franziskus fordert, bedeutet nicht die Auflösung der Hierarchie. Dort, wo es Sinn macht, soll man die Elemente der Mitbestimmung stärken.
Frage: Eine der Prinzipien der Katholischen Soziallehre ist die Subsidiarität. Ließe sich diese in der Kirche implementieren?
Vogt: Die Kirche vertritt das Prinzip der Subsidiarität leider mehr nach außen als nach innen. In der Kirche haben wir es noch kaum umgesetzt. Subsidiarität bedeutet ein Kompetenzanmaßungsverbot: Nichts, was die untergeordneten Instanzen selbst lösen können, dürfen übergeordnete Instanzen entscheiden. Sonst sind die Untergeordneten nur noch Objekte der Belehrung und Lenkung. Subsidiarität zielt auf Empowerment, Ermächtigung, Befähigung und Beteiligung der anvertrauten Menschen. Sie ermöglicht Einheit in Vielfalt. So wird man wird ja auch als Gläubiger nicht gleich unmittelbar in die Weltkirche hinein geboren, sondern immer in die Kirche vor Ort aufgenommen. Es gibt einen subsidiären Vorrang des Vor-Ort-Prinzips. Ich glaube, dass wir da in der Ekklesiologie über Jahrhunderte Erfahrungen haben, die unglaublich hilfreich sein können, die wir heute unter veränderten Bedingungen weiterdenken und konsequent umsetzen sollten.
Frage: Würde es für einen anderen Machtbegriff in der Kirche helfen, die Macht auch theologisch besser zu reflektieren?
Vogt: Auf jeden Fall. Der Kern der Gotteserfahrung hat etwas zu tun mit der Erfahrung der Allmacht Gottes, gespiegelt in der Erfahrung der eigenen Ohnmacht, der eigenen Bedürftigkeit, der eigenen Unvollkommenheit. Die christliche Zusage ist eben die, dass die Macht Gottes nicht meine eigene Autonomie erdrückt, sondern dass die Erfahrung der eigenen Ohnmacht und Unzulänglichkeit im Angesicht des barmherzigen Gottes zu einer Freiheitserfahrung werden kann. Gott ist zugleich der Grund meines Daseins, so wie ich bin, mit all meinen Schwächen. In der Kreuzestheologie kommt zum Ausdruck, dass Gott uns nicht mit seiner Allmacht gegenübertritt. Er erscheint uns stattdessen in Ohnmacht, er will entdeckt werden im leidenden Nächsten. Dadurch gibt es die Möglichkeit der Begegnung mit Gott auf Augenhöhe. Auch Gott ist verletzlich. Er ist erfahrbar im Recht der Machtlosen. Das müsste man sich in der ganzen Debatte eigentlich viel besser vor Augen führen.
Frage: Das Thema Macht spielt auch eine entscheidende Rolle beim Synodalen Weg. Wie blicken Sie auf die Reformdebatte?
Vogt: Das Thema Macht verbindet alle Themen, um die es dabei geht, und bündelt sie: sexueller Missbrauch, Geschlechtergerechtigkeit in der Kirche, Gefälle zwischen Laien und Klerikern, der Umgang mit Ämtern. In der Vorbereitung ist vergleichsweise ehrlich über das alles gesprochen worden. Nach anfänglicher Skepsis sehe ich nun, dass der Prozess Schwung aufgenommen hat und dass es bei vielen einen Willen zur Reform gibt. Es scheinen nicht wenige verstanden zu haben, dass es jetzt darum geht, klare Entscheidungen zu treffen. Ich bin gespannt, ob es gelingen wird, die Blockierer in der Bischofskonferenz zufrieden zu stellen, aber auch, wie man es schafft, den anderen Ländern der Weltkirche das vielschichtige Problem des Machtmissbrauchs in der Kirche bewusst zu machen. Ich sehe da durchaus positive Signale: Auch andernorts sieht man langsam ein, dass man keine Zeit mehr hat, auf die Letzten zu warten. Ein erheblicher Teil des Vertrauenskapitals der Kirche ist jedoch bereits unwiederbringlich verspielt.
Frage: Wie sieht ein Ausweg aus der kirchlichen Machtkrise aus?
Vogt: Wir brauchen eine Bändigung der Macht durch den Dialog unterschiedlicher Perspektiven: In der theologischen Innenperspektive müssen wir zu einer Hingabe in der Liebe und im Glauben kommen, die nicht nach persönlicher Durchsetzung strebt, sondern das Wohl aller im Blick hat. Die erlösende Antwort des Christentums auf das Problem der Macht heißt Demut, wie es Guardini formuliert. Zugleich brauchen wir eine kritische Außenperspektive, die beobachtet, ob irgendwo einseitige Machtverhältnisse ausgenutzt werden. Entsprechend brauchen wir dann eine Gewaltenteilung und in besonders prekären Handlungsfeldern unabhängige Experten, die einen Blick darauf werfen, wie in der Kirche mit Machtkonflikten umgegangen wird. Nur in diese Richtung können Lösungen gefunden werden.