Kontroverser Meilenstein: Das Dokument von Abu Dhabi
Seit einem Jahr steht der Vorwurf inzwischen im Raum: Hat sich Papst Franziskus mit dem "Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen" der Häresie schuldig gemacht? Zumindest konservativ-katholische Kreise sind davon überzeugt. Die Erklärung, hieß es, mache aus Gott einen "Relativisten", der nicht weiß, dass es nur eine Wahrheit gibt und der sich "nicht darum kümmert", ob Menschen an Wahres oder Falsches glauben. Das Fazit: Der Pontifex habe mit seiner Unterschrift das Christentum verworfen.
Tatsächlich beinhaltet das Papier, das Franziskus bei seiner Reise auf die Arabische Halbinsel vom 3. bis 5. Februar vergangenes Jahr gemeinsam mit Ahmad Al-Tayyeb, dem Großimam der Kairoer Al-Azhar-Universität und einer der wichtigsten Stimmen des sunnitischen Islam, unterzeichnet hat, theologisch wie politisch einiges an Sprengstoff. Nie zuvor in der Geschichte haben zwei bedeutende Vertreter zweier großer Weltreligionen eine gemeinsame programmatische Schrift wie diese verfasst. Auf katholischer Seite ist es die höchste Repräsentanz; auf muslimischer Seite die zentrale Figur eines internationalen Ausbildungsnetzwerks, ausgestattet mit hoher Lehrautorität. Der Text wurde ein Jahr lang weitestgehend im Geheimen vorbereitet, Rom und Kairo standen wegen der konkreten Ausformulierung im ständigen Austausch.
Gemeinsame Anliegen
Schon im Vorwort halten der Papst und der Großimam gemeinsam fest: "Der Glaube lässt den Gläubigen im anderen einen Bruder sehen, den man unterstützt und liebt." Auf dieser Basis betonen die beiden den Wunsch ihrer Religionen, gemeinsam den weltweiten Frieden zu fördern, Glaubens- und Meinungsfreiheit zu respektieren und die Bürgerrechte im Sinne einer Gleichberechtigung aller Menschen zu verteidigen. Dazu treten sie deutlich für Religionsfreiheit, Frauenrechte und Nachhaltigkeit ein. Somit werden die zentralen politischen Anliegen von Papst Franziskus in die Erklärung eingebettet – und als gemeinsame Anliegen beider Religionsgemeinschaften formuliert.
Gewalt und Terror im Namen der Religion verurteilt das Dokument scharf – und begründet das theologisch: "Denn Gott, der Allmächtige, hat es nicht nötig, von jemandem verteidigt zu werden; und er will auch nicht, dass sein Name benutzt wird, um die Menschen zu terrorisieren." Stattdessen soll es einen interreligiösen Dialog geben, der die gemeinsamen Werte in den Mittelpunkt stellt und das Gute in der Welt verbreitet. Das alles hält der Text fest "im Namen Gottes, der alle Menschen mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten und gleicher Würde geschaffen hat und der sie dazu berufen hat, als Brüder und Schwestern miteinander zusammenzuleben".
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In das christlich-islamische Verhältnis kann der 4. Februar 2019 als historisches Datum eingehen. Ein Dokument von Papst und Großimam über "Brüderlichkeit" ist ein Meilenstein – genauso wie die größte Messe auf arabischem Boden.Viele Vertreter von Kirche und Politik würdigten das Dokument als Meilenstein. Michael Koch, Deutschlands Botschafter beim Heiligen Stuhl, sprach von einem Schritt nach vorne im interreligiösen Dialog, weil das Dokument "neben dem interreligiösen Aspekt auch eine politische Dimension hat." Und der Apostolische Nuntius in Deutschland, Erzbischof Nikola Eterovic, sagte, es rufe die Vertreter der Religionen sowie die leitenden Persönlichkeiten in Wirtschaft und Politik zu einem ernsthaften Einsatz für die Verbreitung einer "Kultur der Toleranz, des Zusammenlebens und des Friedens" auf.
Die innerkirchliche Opposition dagegen, die sich bald nach der Unterzeichnung der Erklärung bildete, macht ihre Kritik an einer Passage fest. Dort heißt es, der Pluralismus und die Verschiedenheit in Bezug auf Religion entsprächen "einem weisen göttlichen Willen". Laut Athanasius Schneider, Weihbischof im kasachischen Nursultan (ehemals Astana) und bekannter Verfechter der katholischen Tradition, widerspricht es der Offenbarung vom menschgewordenen Gott in Jesus Christus, wenn man das Christentum gleichwertig neben andere Religionen stellt.
Häresievorwurf wegen Überinterpretation?
Viele Experten halten es für fragwürdig, in diese Passage eine Preisgabe zentraler christlicher Glaubensüberzeugungen hineinzuinterpretieren. "Man darf dem Text an dieser Stelle nicht zu viel aufbürden", betont Christian Ströbele, Fundamentaltheologe und Leiter des Fachbereichs Interreligiöser Dialog an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Der Text ist sehr knapp formuliert, noch dazu geht es im engeren Kontext um die Freiheit des Menschen in ihren verschiedenen Ausprägungen. Diese wird dabei in einem göttlichen Willen verankert. Diesem entspreche auch die Verschiedenheit oder die Pluralität. Das gelte für alle Dimensionen: Hautfarbe, Geschlecht, Ethnie und Sprache – und schließlich auch die Religion. "Es ist der Versuch, ein theologisches Argument gegen einen Vereinheitlichungszwang zu bieten", sagt Ströbele.
Eine Pluralität der Religionen lässt sich sogar theologisch deuten. In der Kirchengeschichte gibt es bereits einige Ansätze dazu – manche liegen gar nicht so weit zurück. So betonte Papst Benedikt XVI. bei seiner Weihnachtsansprache vor der vatikanischen Kurie im Jahr 2012, dass der Dialog der Religionen auch dazu diene, dass "durch das Hören auf den anderen beide Seiten Reinigung und Bereicherung empfangen können". Dabei griff Benedikt eine Formulierung auf, die sich schon in der Erklärung "Dialog und Mission" des Päpstlichen Sekretariat für die Nichtchristen aus dem Jahr 1984 findet: Konstruktive Beziehungen zwischen Religionen helfen einander, sich gegenseitig kennenzulernen und einander zu bereichern.
Auch das Zweite Vatikanum hat sich grundlegend mit dem Verhältnis des Christentums, insbesondere der Katholischen Kirche, mit den nicht-christlichen Religionen, beschäftigt – und das sehr wertschätzend. "Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslime, die den alleinigen Gott anbeten, den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat" – diese Passage aus der Erklärung "Nostra aetate" ist bis heute maßgeblich für den katholischen Blick auf den Islam. Zudem mahnt der Text zu gegenseitigem Verstehen und gemeinsamem Eintreten für soziale Gerechtigkeit und Frieden – Formulierungen, an die sich das Dokument von Abu Dhabi ganz eng anschließt.
Wenn man diese und noch weitere Lehrtexte heranziehe sowie manche Präzisierungen vornehme, ließe sich der Vielfalt der Religionen ein theologischer Sinn zugestehen, ist Ströbele überzeugt. Deshalb hält er das "Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen" keinesfalls für häretisch. Diesen Vorwurf hatte auch schon Kardinal Miguel Ayuso, Präsident des Päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog, versucht zu entkräften: Der Text behaupte gar nicht, dass alle Religionen gleich seien. Vielmehr formuliere er, dass alle, die Gott suchten, die gleiche Würde hätten. Die Unterschiede zwischen den Gläubigen verschiedener Religionen sollten als Motiv der Einheit, nicht der Spaltung gewertet werden.
Wunsch nach weltweiten Initiativen
Jener Ayuso ist Mitglied in einem Gremium, das die Verbreitung und Umsetzung der Erklärung fördern möchte. Das "Hohe Komitee der menschlichen Brüderlichkeit" wurde im August von den Vereinigten Arabischen Emiraten gegründet und soll Vorschläge und Ziele der katholisch-islamischen Absichtserklärung umzusetzen. Papst Franziskus, so heißt es, wünsche sich ähnliche Initiativen auf der ganzen Welt.
Was sagt das Kirchenoberhaupt zur Kritik an dem Dokument? Bei seiner Asien-Reise im vergangenen Herbst verteidigte er es ausdrücklich: Es entspreche eindeutig dem "Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils". Damals überreichte er die Erklärung auch führenden Buddhisten. Franziskus ist weiter von der nachhaltigen Wirkung des Papiers überzeugt. Gemeinsam mit Al-Tayyeb hat er sogar den Vereinten Nationen vorgeschlagen, den 4. Februar, das Datum der Erklärungsunterzeichnung, zum "Welttag der Geschwisterlichkeit aller Menschen" zu erklären. Ob das auch umgesetzt wird, steht allerdings noch nicht fest. Was dagegen feststeht: Franziskus ist immer noch Papst – und niemand, der in der Kirche eine gewichtige Rolle spielt, hat das nach der Unterzeichnung des Abu-Dhabi-Dokuments ernsthaft infrage gestellt.