Das Zusammenprallen von Alltag und Religionsunterricht in der Krise
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Es ist schon eine eigenartige Zeit. Mit diesem Satz beginnt oder endet derzeit fast jede Veröffentlichung, viele dienstliche Mails und Briefe und das obligatorische "Bitte bleiben Sie gesund!", das unsereins bislang nur aus der Werbung kannte (den Hersteller verschweige ich), hat in unserem Alltag das "Tschüss!" und "Bis bald!" weitestgehend abgelöst.
Bitte verzeihen Sie diesen Ausrutscher in unseren Alltag, hier soll es ja um Religionsunterricht gehen. Als ich zu Beginn dieses Halbjahres (ok, seien wir ehrlich, nicht wirklich zu Beginn des Halbjahres, denn Hiob und Theodizee hatten uns noch über die Zeitengrenzen hinaus im Griff) mit meinem Prüfungskurs in das Halbjahr "Anthropologie" einstieg, das durch Veränderungen im niedersächsischen Kerncurriculum für mich zum ersten Mal anstand, empfand ich dieses Thema und die damit verbundenen Angaben als irgendwie ziellos. (Ich oute mich hier als Anhänger des alten Kerncurriculums, in dem die anthropologischen Fragen in jedes Halbjahr mit eingebaut werden mussten.)
Da wir nun auch noch sehr zeitnah eine erste Klausur schreiben mussten (auch hier eine kurze Korrektur: ich verfalle immer in das "wir", aber ich muss sie nur korrigieren), waren schnelle Inputs vonnöten und als echter Fan der Schöpfungserzählungen aus dem Buch Genesis nahm ich meinen Kurs mit in die Tiefen des altorientalischen Menschenbildes, um dann mit einem gewaltigen Satz über die Anthropotheologie hin zur ökologischen Ethik zu gelangen. (Für Nicht-Lateinlehrer müssen diese Schachtelsätze ein Graus sein. Entschuldigen Sie diesen dramaturgischen Einschub.)
In der Pandemie fehlt der Religionsunterricht
Und dann: Stille. Kein Unterricht mehr. Keine Begegnung, keine Diskussion, kein Austausch. Plötzlich waren alle weg. Die Krise prasselte auf jede und jeden ein und ließ uns und unsere Schüler mit mehr Fragen als Antworten und mit mehr Sorge als Zuversicht zurück.
Ich mache mir keine Illusion, dass die Schülerinnen und Schüler nicht erstmal ganz verzückt waren, dass die Schule jetzt aus ist (und sie werden eine andere Wortwahl zur Umschreibung ihrer Gefühlswelt gewählt haben). Es sei ihnen von Herzen gegönnt.
Aber wenn jetzt die ersten Fälle in der Familie, im Freundeskreis auftauchen und (Gott bewahre!) die ersten Todesfälle, dann fehlen die vertrauten Orte, dann fehlt die Schulgemeinschaft und dann fehlt auch – und das ist meine feste Überzeugung – der Religionsunterricht. Die aktuellen Studien zur Relevanz von Religion machen es ganz deutlich: an Lebenswenden und/oder in Zeiten der Krise, da hat Religion ihren Platz (bei den meisten Menschen). Und das wussten wir, und auch dafür sind viele von uns Religionslehrer geworden. Und jetzt… können wir nicht.
Plötzlich sind Fragen nach Sinn und Gerechtigkeit, nach Solidarität und Nächstenliebe, nach Leid und Tod, nach Hoffnung und Glaube ganz nah und ganz real. Fast möchte man aufspringen und rufen: "Ich hab's doch gesagt!", aber genau das tut man nicht, denn darum ging es im Religionsunterricht nie. Um Recht haben. Sondern um Freiräume! Freiräume im Kopf, Freiräume im Herzen für die Nächsten, die Hilflosen, die Ängstlichen. Freiräume aber auch für sich selbst, für die eigene Entwicklung, den eigenen Kopf, die eigene Zukunft. Und jetzt hoffe ich, dass etwas von dem, was ich in vielen Stunden in den Unterricht mitgebracht habe, vielleicht solche Freiräume bewahrt, wenn es grade eng wird um uns. Und jetzt ist dieser Ausrutscher in den Alltag ganz nah!
Wo bleibt der Mensch in der Krise?
Ich wollte diesen Zusammenprall von Alltag und Religionsunterricht den Schülern meines Prüfungskurses ein wenig näherbringen und habe ein paar Fragen zur Reflexion der gegenwärtigen Situation herumgeschickt. Aus einem Text von Tobias Voßhenrich hatten wir uns mit der Frage "Wo bleibt der Mensch?" beschäftigt und diese Frage blieb den Schülern nach meiner Wahrnehmung nicht greifbar. Es war mir nicht gelungen, die Tiefe, die hinter der Frage steckt, in den Klassenraum zu bekommen. Aber sie ist da. Ganz ohne meinen Religionsunterricht.
"Wo bleibt der Mensch und wie verändert sich gerade der Blick auf ihn?", "Wo bleibt der Mitmensch?" und "Warum schafft ein Virus Veränderungen, die die Kirche und der Religionsunterricht bislang nicht erreicht haben?". So lauteten (in Kurzform) meine digitalen Fragen an meinen Kurs.
Und ich erhielt prompt zurück: "Erst wenn direkte Gefahr für die Menschen besteht, schränken sie ihr Leben ein und denken an mögliche Folgen." Oder etwas zugespitzter: "Oben genannte Organisationen können noch so überzeugend predigen, werben oder an die Verantwortung der Menschen appellieren, solange der Mensch in seiner Komfortzone ist, sieht er nicht die Notwendigkeit von Handlungen bezogen auf Mitmenschlichkeit oder Verantwortung für die Gesellschaft." Die Analyse trifft hart… aber ich hatte ja auch gefragt.
Die Kirche während der Corona-Krise
Gottesdienste werden abgesagt, Gotteshäuser geschlossen: Das Coronavirus hat auch die katholische Kirche in Deutschland und Europa erreicht. Wie geht es nun in den Bistümern weiter? Und was können die Gläubigen tun? Alles Wichtige zum Thema erfahren Sie hier."Der Mensch wird sich seiner eigenen Verletzlichkeit, Gebrechlichkeit immer bewusster. Er könnte (…) auf die Hilfe anderer angewiesen sein." Und: "Es ist eben nicht nur der Mensch selbst, der sich als gebrechliches Geschöpf zeigt, sondern auch seine Welt, die er sich geschaffen hat."
Dabei ist es doch so: "Der Mensch kann nicht (gut/lange) ohne andere Menschen." Und jetzt müssen "Menschen, die nicht zur Risikogruppe gehören, (…) sich genau für diese Menschen einschränken." "Wichtig ist das Wohlbefinden der Menschen und dieses Interesse, diese Priorität sollte über Landesgrenzen hinausgehen."
Geistiger Freiraum ganz ohne Unterricht
"Der Mensch, der doch die ganze Welt beherrscht, kann durch eine so unscheinbare Handlung plötzlich all seine Schwäche und Verletzlichkeit offenbaren. Nun liegt es an uns Menschen zu beweisen, dass wir nicht nur gebrechlich und verletzlich sind, sondern eben auch soziale und freie Wesen." "Ich selbst habe diese Begeisterung zur Unterstützung der anderen Generationen, die besonders von den Jugendlichen ausgeht, bei uns in der Jugend gespürt. (…) Das zeigt, dass die zum Teil so verpönte 'Jugend von heute' sehr wohl ein Interesse an dem Wohlergehen auch älterer Menschen hat."
Damit ist nicht alles gesagt, aber (so finde ich) das Wichtigste. Manchmal ist es scheinbar besser, wenn keine Lehrkraft im Raum ist. Dann entstehen offenbar ganz eigene (geistige) Freiräume.
Mit diesen Antworten gehe ich jetzt in die Vorbereitung des Unterrichts, der angeblich "nach der Krise" weitergehen soll (wann auch immer das sein wird). Es wird ein anderer Unterricht sein, Dank der Antworten (für die ich den Schülern herzlich danke) und aufgrund der erschütternden Momente, die uns bereits ereilt haben und die uns noch bevorstehen.
Das ist gerade sicherlich kein alltäglicher Blick auf den Religionsunterricht. Aber wie bereits erwähnt: Es ist schon eine eigenartige Zeit.
Und bitte – von ganzem Herzen – bleiben Sie gesund!