Die Passionslieder des Gotteslobs und ihre Bedeutung

Hört das Lied der finstern Nacht (GL 288)
Die Nacht erhält im Laufe des Kirchenjahres immer wieder besondere Bedeutung: An Weihnachten wird die Christmette in der Heiligen Nacht gefeiert und der Geburt Jesu im Stall von Betlehem gedacht. Und an Ostern ist es die Vigil der Osternacht, die mit der brennenden Osterkerze durch die Nacht führt und aus der Nacht heraus in den Ostermorgen. In der Nacht wird Gottes Zuwendung zu den Menschen in sehr besonderer Weise offenbar, zuhöchst in der Menschwerdung und in der Auferstehung.
An vielen Stellen in der Passion begegnet die Nacht – sowohl als Tageszeit, als auch als Sinnbild für die Dunkelheit des menschlichen Lebens. Erhard Anger (1928-1999), der als Kirchenmusiker in Oschatz bei Leipzig tätig war, hat diesen Gedanken aufgegriffen und daraus sein Lied "Hört das Lied der finstern Nacht" gemacht. In der DDR war Anger ein bekannter Dichter und Komponist, dessen Feder eine Vielzahl von Kirchengesängen entstammt. Laut eigener Aussage kam Anger die Idee zum Liedtext, als er Kindern im Unterricht das Passionsgeschehen vermitteln sollte. Er bezog sich dazu auf die Personen, die in den Tagen von Gründonnerstag und Karfreitag besonders mit Jesus zu tun hatten. Daraus ist das vorliegende Lied entstanden.
Der Text ist von zwei grundlegenden Gedanken durchzogen: Zunächst ist es der Rückbezug auf die Nacht, die Nacht des Verrats, die Nacht der Verurteilung, die Nacht des Todes. Nacht meint das Gegenteil von Licht und Leben, die Nacht ist negativ konnotiert und verweist auf die Dunkelheit des menschlichen Lebens. Und andererseits verweist Erhard Anger auf Menschen, die diese Nacht der Passion durch ihr unmenschliches Tun noch vergrößern: Judas, die Jünger, Kaiphas, Petrus.
Doch ist das alles? Bleibt das Lied bei einer bloßen Beschreibung der finsteren Nacht des Leidens Jesu stehen? Nein, denn die achte und letzte Strophe, in die das Lied mündet, weitet die Perspektive: "Jesus stirbt. Da wird es Nacht; doch er bricht die Finsternis, reißt durch seinen Tod uns aus Nacht und Not." Von hinten her gelesen ist das Nacht-Lied von Erhard Anger nicht so finster, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Vielleicht muss man es einfach noch ein zweites Mal singen.
Herzliebster Jesu (GL 290)
Ein Passionslied, das mit der Anrede "Herzliebster Jesu" beginnt, scheint zunächst durchaus ungewöhnlich. Denn schon gleich schließt der Liedtext die Frage "Was hast du verbrochen?" an und lenkt den Blick auf das Leiden und Sterben des Herzliebsten. Der lutherische Pfarrer Johann Heermann hat den Text geschrieben, als Quellen dienten ihm wohl eine ältere Vorlage sowie Ausschnitte aus Reden von Augustinus und Anselm von Canterbury.
Die erste Liedstrophe befasst sich mit rhetorischen Fragen, welche die Ursache des scharfen Urteils freilegen wollen, das Jesus trifft. Denn schon die zweite Strophe beschreibt ziemlich ausführlich die Qualen, die der Verurteilte erleiden muss: Geißelung, Dornenkrönung, Hohn und Spott, die Essigtränkung und Kreuzigung. Der erste Vers der dritten Strophe spielt den anfänglichen Gedanken wieder ein: "Was ist doch wohl die Ursach solcher Plagen?" Die Antwort wird gleich mitgeliefert: "Meine Sünden haben dich geschlagen." Damit wird das Sterben Jesu am Kreuz als Sühne für die Sünden der Menschen und Versöhnung zwischen Gott und der Welt gedeutet. Prominent hat Anselm von Canterbury diesen Ansatz in seiner "Satisfaktionslehre" in seinem Werk "Cur Deus Homo" beschrieben. Der Tod Jesu am Kreuz ist als Sühneopfer nötig, um Gott und Menschen zu versöhnen. Gott wird Mensch, freilich ohne Sünde, aber er lädt die Sünden der Menschen auf sich und nimmt sie mit ans Kreuz, um so Genugtuung zu leisten. Die Schuld der Knechte wird vom Herrn selbst bezahlt, wie es die vierte Strophe formuliert. Die Menschen können sich selbst nicht erlösen, aber Gott kann es in seinem Sohn Jesus Christus. Diesem Gedanken hängt dieses Passionslied nach.
Die Melodie unterstreicht die Schwere des Textes. Besonders die stetigen Abwärtsbewegungen und die insgesamt getragene Melodie prägen den markanten Charakter des Klageliedes.
Holz auf Jesu Schulter (GL 291)
Eigentlich ist das Lied "Holz auf Jesu Schulter" eine typische Leise, wie sie für mittelalterliche Kirchenlieder üblich war. Das berühmteste Beispiel für solche Lieder, die ihren Namen vom "Kyrie eleison" erhielten, das am Ende jeder Strophe gesungen wird, ist wohl das uralte Osterlied "Christ ist erstanden". "Holz auf Jesu Schulter" jedenfalls ist wesentlich jünger und stammt aus den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Der niederländische Dichter Willem Barnard lieferte den Originaltext, der von Jürgen Henkys ins Deutsche übertragen wurde und erstmals 1976 erschienen ist. Die reformierte Pfarrer Willem Barnard schrieb sein Lied ursprünglich für den letzten Sonntag im Kirchenjahr. Überschrieben war sein Text mit "Von der guten Frucht. Epistellied nach Kolosser 1,9-14".
Das ins neue Gotteslob aufgenommene Lied setzt sich aus sechs Strophen und einem wiederkehrenden Refrain zusammen. Letztere lenkt den Blick auf den Kyrios Christus und endet mit der Bitte "Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehen". Damit ist auch der vorgehende Text der Strophen von der Hoffnung auf die Auferstehung getragen, die bereits in der Passion mitklingt.
Die Strophen selbst bringen das Kreuz ins Wort, das bildhaft als Baum des Lebens beschrieben wird. Auffallend ist, dass der Text der Strophen nicht direkt auf die Passion Jesu Bezug nimmt, sondern eher sehr dezent das Leiden Jesu thematisieren. Mit dem "Alles ist vollbracht" in der dritten Strophe oder der Frage "Warum zweifelst du?" in der fünften Strophe klingen Themen aus der Passion bzw. Ostergeschichte an. Nur die Rahmung aus erster und sechster Strophe setzt das Holz des Kreuzes in direkten Bezug zum Herrn Jesus und weist es als Baum des Lebens aus, das "von Früchten schwer" ist.
Vielleicht ist das Lied, das in einem uralten Gewand daherkommt, gar nicht so antiquiert, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Ein letzter Blick auf den Text: "Denn die Erde klagt uns an bei Tag und bei Nacht (…). Denn die Erde jagt uns auf den Abgrund zu." Vielleicht geht es aktueller gar nicht.
Fürwahr er trug unsre Krankheit (GL 292)
"Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen: Das vierte Lied vom Gottesknecht aus dem Prophetenbuch Jesaja wird traditionell als erste Lesung am Karfreitag gelesen. Der evangelische Pfarrer und Sozialarbeiter Eugen Eckert hat sich den Text zum Vorbild für sein Lied gemacht, dessen Text erstmals 1987 in einem seiner Liederhefte erschienen ist. Über Liederbücher wurde "Fürwahr er trug unsre Krankheit" weit verbreitet, das neue Gotteslob hat das Lied unter der Rubrik "Heilige Woche" aufgenommen. Das scheint durchaus stimmig, wird doch bereits am Palmsonntag aus dem dritten Gottesknechtslied gelesen. Damit passt es sich gut in die Rahmung ein, die von der Liturgie vorgegeben ist.
Obwohl sich das Lied ausdrücklich auf das Leiden und Sterben Jesu am Kreuz bezieht, hat es seinen ursprünglichen Bezugstext im alttestamentlichen Prophetenbuch Jesaja. Bereits die Evangelien setzen das Leiden des Gottesknechtes und das Leiden Jesu miteinander in Beziehung. Die Liturgie bewahrt diese Verbindung bis heute. Eckert greift sie in seinem Lied auf und verknüpft sie mit Gedanken aus der Passion Jesu. Die Dornenkrönung, die Durchbohrung der Seite oder das Kreuz selbst lesen die Gottesknechtslieder aus einer christlichen Perspektive. Der "gekreuzigte Gott" steht auf der Seite der Armen, er ist mit Ohnmacht und den Kleinen vertraut. Auch damit gewinnt Eckerts Theologie eine besondere Schlagseite, wenn man sie auf der befreiungstheologischen "Option für die Armen" liest.
Die Melodie zu Eckerts Lied stammt übrigens aus Chile. Interessant ist, dass sich der Umfang der Melodie zum Ende hin immer mehr verringert. Die letzte Liedzeile kommt gar mit drei Tönen aus. Die Melodie reflektiert dadurch den Text: Das Schlachten des Lammes und sein langsames Verstummen bis zum Tod.