Gastbeitrag über Leiden und Dankbarkeit in Zeiten von Corona

Bischof Kohlgraf: Was für mich von diesem Osterfest bleiben wird

Veröffentlicht am 12.04.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Mainz ‐ Kar- und Ostertage ohne feierliche öffentliche Gottesdienste habe er sich in seinen schwärzesten Träumen nicht ausgemahlt, sagt der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf. Und aus der Quarantäne vor einigen Wochen wäre er manchmal gern abgehauen. Doch trotz aller Einschränkungen: Ostern bleibt für ihn ein Fest der Hoffnung - Corona zum Trotz.

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Es ist gut, dass wir Ostern weder verschoben haben noch haben ausfallen lassen. "Ostern findet statt", so hat Bischof Georg Bätzing, Limburg, dieser Tage formuliert. Tatsächlich erlebe ich in diesem Jahr die Notwendigkeit der Botschaft von Ostern, ihre tröstliche Hoffnung und ihre Perspektive für den Weg in die Zukunft hilfreicher und wichtiger als in vielen Jahren zuvor. Ich habe in den vergangenen Tagen Osterpredigten auch von Papst Franziskus aus dem letzten Jahr gelesen. Dort heißt es in der Predigt zur Osternacht auf Christus bezogen: "Hinter dem Tod sieht er Brüder (und Schwestern, P.K.), die zur Auferweckung bestimmt sind; hinter der Trostlosigkeit sieht er Herzen, die zu trösten sind. Hab also keine Angst: Der Herr liebt dein Leben (…). Jesus ist ein Spezialist darin, unsere Tode in Leben zu verwandeln, unser Klagen in ein Tanzen."

Das sind starke Worte der Hoffnung, die wir wohl alle derzeit besonders dringend brauchen. Und es sind ja meinem Glauben zufolge nicht einfach utopische Bilder, die Menschen erfunden haben, um sich in diesem Jammertal trösten zu können. Christinnen und Christen glauben ja (wenn auch manchmal fragend und tastend), dass das Leben den Tod besiegt hat, dass Christus lebt, dass sein Licht in unser Dunkel scheint. Ich erinnere an die schlimmen Bilder aus Italien, aus Spanien und den Vereinigten Staaten, aus den Slums und Favelas Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, aus dem Flüchtlingslager auf Lesbos. Wieviel Not und Trauer, wieviel Leid und Tod ist dort über Menschen und ihre Familien gekommen! Wie stark ist dann die Osterbotschaft, die Gott zutraut, das Leben siegen zu lassen. Ostern darf man nicht verschieben oder gar ausfallen lassen, davon bin ich fest überzeugt.

Der Schrei Jesu hallt heute weiter

Ostern ist nicht isoliert von Karfreitag und Karsamstag zu feiern. Was das Kreuz bedeutet, rückt mir in diesem Jahr ebenfalls auf neue Weise nahe. Christus erspart sich das Leiden nicht. Er erlebt es wohl auch nicht einfach als lästigen Übergang in eine bessere Welt. Er muss den bitteren Kelch des Leidens bis auf den Grund austrinken. Der Hebräerbrief (5,7ff.) bringt es drastisch in die Sprache. Er erinnert an das Schreien und bittere Weinen Jesu, an die Bitten und Gebete, die er sein Leben lang (!) vor den Vater gebracht habe, er solle ihn aus dem Tode erretten. Ja, er ist erhört worden, auf einzigartige Weise, aber das Leiden und der Schrei des Betens und den Gehorsam musste er sein Leben lang lernen. Der Brief gibt, wie viele neutestamentliche Stellen, die sich mit dem gekreuzigten Christus befassen, keine simple Antwort auf das "Warum". Der Schrei Jesu hallt heute weiter in den lauten Tränen der Kranken, Leidenden und Trauernden. Er hört nicht auf bei den Einsamen und den Opfern von Gewalt jeder Art. Der Gekreuzigte ist keine bequeme, schon gar keine plakative Antwort auf die Frage nach der Rolle Gottes im Leiden der Menschen.

Der Bischof von Mainz, Peter Kohlgraf
Bild: ©KNA

Peter Kohlgraf ist seit 2017 Bischof von Mainz.

In diesen Tagen entdecke ich den Sinn biblischer Klagegebete neu. Die Trauer im Gebet und die Klage vor Gott versuche ich mit dem Glauben an den Gott und Vater Jesu zu verbinden, der die Liebe ist. Ihm halte ich nicht nur mein persönliches Leben hin, sondern die ganze Welt. Als ein starkes Bild wird mir und vielen Menschen die Szene in Erinnerung bleiben, als Papst Franziskus vor dem leeren Petersplatz stehend die Stadt und den Erdkreis ("urbi et orbi") unter den Segen des Gekreuzigten stellte. Der Papst erinnerte in seiner großen Predigt an die Notwendigkeit, umzukehren und sich der eigenen Fundamente klar zu werden. Die derzeitig grassierende Pandemie zwingt die Welt zum Innehalten, wir erfahren unsere Verletzlichkeit und Ohnmacht, wo wir sonst doch meinen, alles machen und steuern zu können. Gott hat die Welt nicht verlassen, gerade nicht im Dunkel und im Leiden. Die Welt ist stiller geworden, manchmal gespenstisch leise. Das ist die Situation des Karsamstags. Er ist nicht hoffnungslos, aber es zeichnet sich keine vom Menschen machbare, schnelle Lösung ab. Es ist der Tag, alles in Gottes Hände zu geben, ihn machen zu lassen. Ich werde in Zukunft den Karsamstag gewiss anders erleben als noch in den letzten Jahren.

Die Fastenzeit als vorösterliche Bußzeit hat sich in diesem Jahr in besonderer Weise entwickelt. Vor Aschermittwoch habe ich überlegt, wie ich diese Zeit gut gestalten könne. Ich gebe zu, dass mir nicht viel Originelles eingefallen ist; ich hätte auf ein paar "Klassiker" zurückgegriffen, Reduktion von Alkohol und Süßigkeiten zum Beispiel. Als ich dann in Quarantäne musste, hatte ich bei allen Schwierigkeiten die Chance, eine tatsächlich außergewöhnliche Zeit zu verbringen. Es waren geistliche Tage, mit guten Erfahrungen, aber auch dem Wunsch, auszubrechen und "abzuhauen". Ein regelmäßiger Lebensrhythmus, Lesen, Musik machen und natürlich das Gebet haben mich durch die Zeit gebracht, nicht zuletzt auch telefonische Kontakte zu guten Freunden.

Ich spüre eine starke Dankbarkeit für das Leben

Mir ist bei mancher Traurigkeit in diesen Tagen aber auch deutlich geworden, wie komfortabel meine persönliche Situation ist. Ich erfahre von Menschen in akuter Not, gesundheitlich und materiell, ich habe mich bemüht, von mir weg auf diese vielfältigen Lebenssituationen zu schauen. Nun kommen das Bild des Gekreuzigten und das der vielen einzelnen Menschen zu einem Bild zusammen. Wenn ich formulieren sollte, was der geistliche Ertrag für mich war, würde ich wohl antworten: Ich spüre eine starke Dankbarkeit für das Leben, die Gesundheit und viele Freundschaften, und auch die vielen Möglichkeiten, die ich persönlich habe. Neben der Dankbarkeit nehme ich mit, das Herz geschmeidig zu halten für die Menschen, die mich brauchen, und wenn es mein Gebet für sie ist.

Eine Kar- und Osterwoche ohne öffentliche feierliche Gottesdienste hätte ich mir in meinen schwärzesten Träumen nicht vorstellen können. Auch die Feier der Eucharistie an den Sonntagen mit den Gemeinden vermisse ich so wie viele andere sehr schmerzlich. Es hilft mir jedoch nicht, allein auf meine eigenen geistlichen Bedürfnisse zu schauen. Das Durchbrechen der üblichen Routinen kann auch einen Prozess auslösen, den Wert der Gottesdienste, der Gemeinschaft und der Eucharistie tiefer zu entdecken. In meiner Predigt zum Gründonnerstag in diesem Jahr spreche ich von der Wiederentdeckung einer "Kultur der Sehnsucht" (Dieter Emeis), die uns in der Kirche geschenkt werden möge. Die Unruhe des Herzens bringt mich in eine geistliche Weggemeinschaft mit manchen Menschen heute. Ich glaube an Christus als den Weg, die Wahrheit und das Leben, und bin doch immer auf der Suche nach ihm. Ich glaube an ihn, und weder besitze ich ihn noch kann ich ihn als mein Recht einfordern. Der Verzicht auf die gemeinsame Eucharistiefeier ist für viele glaubende Menschen weltweit Normalität, so dass ich mich ihnen in diesen Tagen solidarisch verbunden fühle.

Linktipp: Die Kirche während der Corona-Krise

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Es ist die Zeit der kleinen Gebete, der Hausgottesdienste, der Agapefeiern im familiären Kreis, die uns jedoch zu einer großen Gemeinschaft verbinden. Ich habe viele unserer Gemeinden und Kreise als sehr kreativ und hilfreich erlebt, bei allen, die in der Krise gestaltet haben, bedanke ich mich herzlich. Uns alle hat die Situation kalt erwischt, wir haben wenig Zeit gehabt. Dafür ist vieles entstanden, was für Menschen hilfreich war und derzeit ist: zum Beispiel digitale Angebote, Telefonseelsorge, Material für kleine Feiern und für das persönliche Gebet. Wir werden später in Ruhe manches evaluieren müssen, aber jetzt, so meine ich, ist nicht die Zeit für lieblose Kritik oder Herablassung für manchen weniger gelungenen Versuch. Man muss etwa digitale Angebote nicht nutzen, und ihrer sind derart viele, dass man gut wählen kann, wie es schließlich auch in der analogen Welt gilt.

Jeden Abend segne ich die Menschen meiner Diözese

Von den Kar- und Ostertagen wird für mich ein starker diakonisch-caritativer Impuls bleiben. Das wünsche ich mir insgesamt. Wir verzichten auf bestimmte Freiheitsrechte und auf die Gottesdienste, weil wir die Nächsten lieben und sie schützen, besonders die Menschen, die besonders gefährdet sind. Wenn ich dieses Jahr Ostern feiere, kann ich dies nicht tun, ohne der vielen Menschen in unseren Pflege- und Betreuungseinrichtungen zu gedenken, die konkret die Nachfolge Jesu leben unter Einsatz der eigenen Gesundheit. Hier verwirklicht sich das Reich Gottes. Werden wir es als Christinnen und Christen schaffen, derart "Salz der Erde" zu sein, dass Aufmerksamkeit, Hilfsbereitschaft und das Miteinander stärker sind als die gerade in Notzeiten auch erwachenden Egoismen? Es wird sich zeigen. In diesen Tagen bete ich darum.

Wie Ostern feiern in den Tagen von Corona? Ganz praktisch für mich: es sind kleine, kleinste Bischofsgottesdienste, die ich mit meiner und für meine Diözese feiere. Ich bitte alle, dass wir uns im Gebet verbinden. Jeden Abend segne ich die Menschen meiner Diözese. Ich freue mich, wenn wir uns demnächst wieder leibhaft begegnen. Ich wünsche allen Hoffnung und die österliche Freude.

Von Bischof Peter Kohlgraf

Der Autor

Peter Kohlgraf ist Bischof von Mainz und Präsident der deutschen Sektion der katholischen Friedensbewegung Pax Christi.