Dörfer still wie Geisterstädte: Ordensfrau über den Lockdown in Peru
Mit knapp 120.000 Fällen hat Peru laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) nach Brasilien die zweitmeisten Covid-19-Erkrankungen in Lateinamerika. Die Regierung hatte im März strikte Maßnahmen gegen eine Ausbreitung verhängt, als gerade die ersten Fälle gemeldet wurden. Doch die Zahlen stiegen, weil die arme Bevölkerung keine Möglichkeit hat, Lebensmittel gekühlt zu lagern und deshalb täglich auf den Markt gehen muss. Der Kontakt zu anderen Menschen ließ sich für sie nicht vermeiden, was zu steigenden Infektionsquoten führte. Schwester M. Beatriz Vasquez Mayta war bis Mitte April Oberin der Niederlassung der Franziskusschwestern von Vierzehnheiligen in der peruanischen Hauptstadt Lima. Seitdem arbeitet sie als Verwalterin der Kongregation, die im Stadtteil La Victoria mehrere karitative Einrichtungen unterhalten. Direkt nach der Verkündung der Schutzmaßnahmen musste Vasquez Mayta überstürzt zu einer Fahrt durch die Anden aufbrechen.
Frage: Am 16. März verhängte die peruanische Regierung eine strikte Ausgangssperre. Wie haben Sie die ersten Stunden nach der Verhängung erlebt?
Schwester M. Beatriz Vasquez Mayta: Die Schwestern in Vierzehnheiligen senden regelmäßig Jugendliche als Freiwillige nach Peru. Dieses Jahr waren Kerstin und Leonie hier, die in einem Waisenhaus in Tarma, auf der anderen Seite der Anden, arbeiteten. Als die Ausgangssperre in Kraft treten sollte, befand sich Kerstin gerade in Lima, aber Leonie war noch in Tarma. Die Zuständigen in Deutschland ließen uns wissen, dass die Freiwilligen nach Lima zurückkehren mussten, um jederzeit nach Deutschland ausgeflogen werden zu können. Denn mit der Ausgangssperre war es zu unsicher für sie geworden. Innerhalb von 30 Minuten mussten wir deshalb eine Reise von Lima nach Tarma organisieren, um Leonie abzuholen. Innerhalb dieser kurzen Zeit mussten wir eine behördliche Erlaubnis für die Fahrt, das Auto, den Fahrer, Leonie und mich einholen. Um zwei Uhr nachmittags machten wir uns von Lima aus auf den Weg ins sechs Stunden entfernte Tarma. Die dortigen Klarissen hatten versprochen, uns entgegenzukommen und Leonie bis nach La Oroya zu bringen, damit wir Zeit gewinnen konnten.
Frage: Wie sah es auf den Straßen aus?
Vasquez Mayta: Kein Mensch war auf der Straße, nur das Militär, das sehr streng kontrollierte. Als wir ins Hochland kamen, war um uns nur wunderschöne, ruhige Natur. Kein anderes Auto fuhr und die Dörfer waren still wie Geisterstädte. Einmal mussten wir anhalten, weil ein Lama und ihr Junges auf der Straße saßen. Normalerweise rennen sie sofort weg, wenn Menschen sich nähern, aber jetzt saßen sie dort seelenruhig mitten auf dem Weg. Der Fahrer eines Lastwagens mit Lebensmitteln – einer der wenigen, die noch fahren durften –, stieg aus und trug das Jungtier in Sicherheit. Der Blick der Tiere ging uns unter die Haut. Sie blickten uns an, als ob sie sagen wollten: "Menschen, was habt ihr getan?"
Frage: Wie ging die Rückholaktion weiter?
Vasquez Mayta: Wir fuhren schnell und gegen 17 Uhr kamen wir in La Oroya an. Auf der Straße sahen wir Leonie – allein. Wir hielten an, Leonie stieg ein und wir drehten direkt wieder um. Denn um 20 Uhr mussten wir laut behördlicher Anordnung wieder zuhause sein. Doch auf der Rückfahrt durch die Anden begann es erst zu regnen und dann zu schneien. Deswegen mussten wir langsamer fahren. Als wir bei Lima an der Kontrolle ankamen, war es zu spät. Die Polizei war sehr streng und ließ niemanden weiterfahren. So mussten wir die Nacht im Auto verbringen. Am nächsten Tag sollten wir um fünf Uhr weiterfahren, aber unsere Erlaubnis war zu diesem Zeitpunkt abgelaufen. Ich wusste, dass das Personal der staatlichen Krankenhäuser zur Arbeit fahren durfte. Also rief ich meine Nichte Elsa Celina an, die in einem staatlichen Kinderkrankenhaus arbeitet. Ich sagte ihr, ich würde sie abholen und zur Arbeit bringen. Als Mitarbeiterin eines Krankenhauses hatte sie einen Passierschein und wir bekamen problemlos freie Fahrt. Auf dieser Reise war das Gebet von Anfang an unser Begleiter. Ende März konnten Leonie und Kerstin dann endlich nach Deutschland zurückfliegen und sie sind jetzt zu Hause bei ihren Familien.
Frage: Wie sieht das Leben für die Peruaner seit Mitte März aus?
Vasquez Mayta: Bis Mitte März war das Leben hier irgendwie in Ordnung. Am 16. März hat die Quarantäne angefangen. Die getroffenen Maßnahmen haben am Anfang geholfen und die Zahl der infizierten Menschen blieb "unter Kontrolle". Die Zusammenarbeit im Gesundheitswesen war noch nie so gut wie in dieser Zeit. Doch je länger die Einschränkungen dauerten, desto weniger wurden die Maßnahmen eingehalten und dementsprechend zeigte die Infektionsquote ein unerwünschtes Wachstum. Das Gesundheitssystem ist kollabiert und die Krankenhäuser können keine neuen Patienten mehr aufnehmen. Dieser Krieg gegen den "nicht zu erkennenden Gegner" übersteigt alle Grenzen. Um dieses Virus unter Kontrolle zu halten, haben viele Peruaner alles gegeben, manche sogar ihr eigenes Leben. Langsam sind wir machtlos.
(Anm. d. Red.: Die peruanische Regierung hat die strikten Beschränkungen Ende Mai etwas gelockert. Doch der Stadtteil La Victoria, in dem die Niederlassung der Franziskusschwestern liegt, ist einer der am stärksten betroffenen von ganz Lima. Deshalb gelten hier noch immer viele der Schutzmaßnahmen.)
Frage: Ihre Kongregation unterhält einen Kindergarten, zwei Schulen sowie eine Poliklinik. Wie beeinflussen die Maßnahmen Ihre Arbeit?
Vasquez Mayta: Die Schulen wurden gleich am Anfang geschlossen und dürfen bis Ende des Jahres nicht öffnen. Die Schulkinder und Jugendlichen sollen online unterrichtet werden. Die Regierung hat dafür innerhalb von 12 Tagen eine neue Schulplattform entwickelt und in Lima das WLAN-Netzwerk ausgebaut. Unsere Schwestern, die in staatlichen Einrichtungen als Lehrerinnen arbeiten, machen Überstunden und arbeiten online mehr als wenn sie in der Schule Präsenzunterricht geben würden. Die beiden Schulen unserer Kongregation wie auch andere private Einrichtungen stellte der verordnete Onlineunterricht zunächst aber vor große technische Herausforderungen. Hinzu kam, dass viele Eltern das Schulgeld nicht mehr bezahlen konnten, weil sie ihre Jobs verloren hatten. Im Gesundheitswesen dürfen seit Mitte März nur die staatlichen Einrichtungen arbeiten. Unsere Poliklinik Sta. Isabel de Hungria wurde geschlossen. Unsere Ärzte arbeiten nun in den staatlichen Krankenhäusern und versuchen dort, Leben zu retten. Unter strengen Auflagen versorgen wir täglich bedürftige Menschen oder Familien mit Frühstück und Mittagessen.
Frage: Gibt es auch Einschränkungen für das kirchliche Leben?
Vasquez Mayta: Die Quarantäne gilt für alle, kein Mensch darf frei herumlaufen. Die Kirchen und Kapellen sind geschlossen, es finden keine öffentlichen Gottesdienste statt. Als Gemeinschaft nutzen wir die Angebote im Internet. Die Seelsorge ist sehr eingeschränkt. Wir schicken Nachrichten an Bekannte, Verwandte und Freunde über das Internet. Das Telefon ist zu unserem wichtigsten Kommunikationsmittel geworden.
Frage: Welche Auswirkungen werden die Maßnahmen für die Menschen in Peru haben?
Vasquez Mayta: Viele Betriebe sind in Konkurs gegangen. Auch wir mussten unser Exerzitienhaus schließen und unsere Mitarbeiter in eine ungewisse Zukunft entlassen. Es gibt zwar staatliche Unterstützung, aber diese Krise wird länger dauern und es wird noch länger dauern, bis wir uns wieder davon erholt haben – wenn wir die Pandemie überhaupt überleben. Ökonomisch ist der Schaden größer als der, den der Terrorismus der 1980er und 1990er Jahre verursacht hat. Nach so viel Schaden durch Terror und Korruption konnten wir seit einigen Jahren Licht und Hoffnung sehen – und plötzlich stehen wir wieder mitten in der Armut wie vor 20 Jahren. Uns als Peruanern wurden nicht die Gewinne gekürzt oder der Überschuss gestrichen – uns geht es hier um die Existenz, ums Überleben. Wir empfehlen unsere Welt jeden Tag dem lieben und guten Gott.