8.600 Glocken für die Welt: Die Bremer Gießer-Dynastie Otto
Sie hängen von Juist und Borkum bis nach München und von Aachen bis Görlitz. Und sogar in der Dormitio-Abtei der Benediktiner auf dem Berg Zion in Jerusalem erklingen sie bis heute im Turm der Kirche: Glocken der Gießerei Otto aus Bremen-Hemelingen. Mehr als 8.600 Exemplare hat sie während ihrer aktiven Zeit gefertigt. Rund 4.350 davon existieren noch. Ein Mann kennt sie alle – der Essener Wirtschaftswissenschaftler und Religionshistoriker Gerhard Reinhold.
Er hat sie katalogisiert und beschrieben, ihren Klang studiert und verglichen. Und er hat über die Ottos und ihre Glocken ein fast 600 Seiten starkes Buch verfasst, das gerade erscheint. In seiner Detailfreude sicher ein Werk für Spezialisten, in seiner Gestaltung aber auch ein Augenschmaus für Liebhaber.
Glocken waren für ihn erst "ein fernes Land"
Der heute 67-Jährige war bis Anfang des Jahrtausends Geschäftsführer des Gemeindeverbands der katholischen Kirchengemeinden in Bottrop. Dann machte eine Reform im Bistum Essen aus den 18 örtlichen Gemeinden noch ganze 2 und Reinhold hörte auf. Er bekam Kontakt zur Firma Otto, die damals zwar schon keine Glocken mehr goss, aber noch Wartungen durchführte. Reinhold sollte eine Firmenchronik schreiben. Glocken seien für ihn damals noch "ein fernes Land" gewesen, sagt er.
Aber das änderte sich bald. Die Otto-Glocken wurden Reinholds Leidenschaft. "Im Laufe der achtjährigen Recherche habe ich mehr als 100 Kirchtürme bestiegen und dabei wohl 300 Otto-Glocken besucht", erzählt er. Eine Lieblingsglocke hat er nicht. Aber beeindruckt hat ihn etwa das aus zehn Otto-Glocken bestehende Geläut im Trierer Dom. Es kommt zusammen auf rund 24 Tonnen. Der dortige Glockensachverständige Sebastian Schritt schwärmt; die Glocken ließen klanglich "keine Wünsche offen".
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"Essen, Düsseldorf und Köln sind Otto-Land", sagt Reinhold. Besonders auch im Ruhrgebiet seien zum Ende des 19. Jahrhunderts viele Otto-Glocken in die Kirchtürme gehängt worden. Die Gründung der Firma 1874 durch Franz Otto aus Duderstadt und seinen Bruder Carl, einem Priester, fiel mit dem Einsetzen der Industrialisierung zusammen. Von überall her strömten Menschen in die Gegend, und neben Fabriken und Wohnhäusern wurden auch Kirchen gebaut. "Und alle brauchten Glocken", so Reinhold.
Die Firma Otto expandierte, gründete Niederlassungen in Breslau (Wroclaw) und später in Saarlouis. Sie wurde zu einer der größten und bedeutendsten Bronze-Glockengießerei. "Man sagt, Otto-Glocken seien die schönsten", erzählt Reinhold. Der reine und durchdringende Klang kommt vor allem von der verwendeten Bronze. Nur damit goss die Firma Otto und blieb dabei auch nach dem Zweiten Weltkrieg, als wegen Materialmangels andere Gießereien auf Stahl und Eisen auswichen.
In den 1970er wurde die Produktion eingestellt
In den 60er Jahren ging die Nachfrage nach Glocken deutschlandweit zurück. Otto in Bremen-Hemelingen stellte Anfang der 70er Jahre in der vierten Generation den Guss von Bronze-Glocken ein.
In seinem mit 640 Bildern versehenem Buch beschreibt Reinhold den "otto-spezifischen" Glockenguss, unterscheidet zwischen Glockenstühlen aus Holz und aus Stahl und macht den "Versuch" einer Charakterisierung von Otto-Glocken auf Basis von mehr als 500 Klanganalysen. Er beschreibt und kommentiert zudem über 300 Inschriften, um den Beitrag von Glockengeläut zur Geschichte der Kirchen und nicht zuletzt der Religion aufzuzeigen. Das sei vor allem für seine Dissertation notwendig gewesen, auf der das Buch beruht und mit der er 2019 an der Radboud-Universität im niederländischen Nijmegen die Promotion erlangte.
Er habe Spaß "an einer langen, detaillierten und fundierten Arbeit", beschreibt der Un-Ruheständler seine Motivation. Otto-Glocken lassen ihn auch nach der Arbeit am Buch nicht los. So sorgt er sich derzeit um jene in von Abriss bedrohten Kirchen im Aachener Braunkohleabbau. Die Einschmelzung drohe ihnen zwar nicht, womöglich aber ein Verkauf. Reinhold wird sie im Auge behalten – und im Ohr.