Rekord bei den Kirchenaustritten

Wie Kirche agieren muss, wenn der Glaube nicht mehr gebraucht wird

Veröffentlicht am 27.06.2020 um 15:50 Uhr – Lesedauer: 
Debatte

Utrecht ‐ Der neue Rekord bei den Kirchenaustritten zeige eine harte Wahrheit, analysiert der Theologe Jan Loffeld: Vielen Menschen fehle ohne Gott und Kirche nichts – und das ganz unabhängig von großen Skandalen. Doch trotz aller Trauer – Loffeld sieht auch Chancen für eine Kirche in Transformation.

  • Teilen:

Erlauben Sie einen kurzen Einstieg mit zwei persönlichen Erinnerungen. Im Mai 2003, einen Monat bevor unser damals 16-köpfiger Weihekurs in Münster die Priesterweihe empfing, fand in Mainz der erste bundesdeutsche Seminaristentag statt. Bei der Abschlusspodiumsdiskussion in der Rheingoldhalle (die man aufgrund der noch hohen Kandidatenzahlen gebucht hatte) war der Tenor der Teilnehmenden einhellig: "Die Welt braucht Seelsorge, sie braucht auch Priester, die Sakramente spenden, Ihr geht in eine gute Zukunft." – "gottgeweiht und weltgewandt", das damalige Motto des Mainzer Treffens gab zugleich das "Rezept" dazu.

Szenenwechsel: Im vergangenen Jahr beim Antritt der Stelle hier in Utrecht erwähnte die religionspädagogische Kollegin im Kennenlerngespräch so ganz nebenbei: "Hier in Holland wartet niemand auf uns". Sie sagte das überhaupt nicht mit Gram, Trauer oder gar mit depressivem Unterton.

Jan Loffeld im Portrait
Bild: ©privat

Jan Loffeld ist Professor für Praktische Theologie in Utrecht in den Niederlanden und Priester des Bistums Münster.

Zwischen diesen beiden Perspektiven, so scheint es, bewegt sich die Diskussion um kirchliche bzw. religiöse Exkulturationsprozesse während der vergangenen Jahrzehnte. Die erste hat als Prämisse letztlich eine religiöse Natur des Menschen. Jeder Mensch hat ein religiöses Bedürfnis und es ist die Aufgabe der Religionsgemeinschaften darauf adäquat zu antworten. Der Schwerpunkt liegt dann auf der Angemessenheit, Qualität und Verstehbarkeit der Antwort. Die zweite Perspektive sieht, dass schon die religiöse Frage nicht mehr – zumindest bei allen – existiert. Das heißt nicht, dass nicht jeder Mensch ein religiöses Potential hätte, doch zunehmend viele sehen überhaupt keine Notwendigkeit dieses zu aktivieren oder dauerhaft aktiv zu halten, auch nicht in den Zeiten klassischer Lebens- und Sinnfragen. Viele pastorale Erfahrungen aus der Corona-Zeit scheinen genau in diese Richtung zu weisen.

Forderung nach Reform ist unabdinglich

Für die derzeit wieder einmal akute Frage nach einer Analyse für die hohen Kirchenaustritte ist es sicher nicht der eine Anlass oder der spezifische Grund, der als Schlüssel für alles dient. Ebenso gibt es sicher nicht "die" Lösung. Die Forderung nach Reformen gerade in der katholischen Kirche ist dabei unabdinglich. Allerdings sollten diese nicht als "Kirchenperfomance" instrumentalisiert und schon gar nicht mit dem Messianismus verbunden werden, dass damit der Entkirchlichungstrend vollends gestoppt würde. Dennoch braucht es ohne Zweifel Reformen, jedoch aus Gerechtigkeitsgründen, die einem Prozess der ernsthaften Unterscheidung der "Zeichen der Zeit" entsprechen, um heutigen Menschen und Problemstellungen im Sinne des Evangeliums besser gerecht werden zu können.

Angesichts der neuen Zahlen spricht vieles dafür, dass sich in ihnen auch eine Entwicklung widerspiegelt, die Teile der aktuellen internationalen Religionssoziologie als eine Wiederkehr säkularisierungstheoretischer Ansätze beschreibt. Dabei handelt es sich bei Säkularisierung nicht um einen Universaltrend (das ist der Unterschied zur klassischen Säkularisierungsthese), aber dennoch um einen Megatrend. Neben einem mitunter sehr diversen, kontroversen und lebendigen (kleinen) "religiösen Feld" wächst ein Markt anderer, nicht religiöser bzw. religionsähnlicher Sinnangebote.

„Zugleich entfremden sich freilich auch Menschen aus dem innersten Kern der Kirche von ihr, weil sie die Hoffnung auf Veränderungen aufgegeben haben.“

—  Zitat: Jan Loffeld

Manche stellen sich sogar die Sinnfrage gar nicht explizit. Feststellbar ist unter anderem bei jungen Leuten unter 40: je jünger, desto unberührter sind sie mit religiösen Fragen und dies viel weniger, als es etwa noch ihre Eltern in ihrem Alter waren. Oder wie es eine junge Weltanschauungslehrerin hier aus den Niederlanden über ihre Schülerinnen und Schüler sagte: "There is no religious issue". Wir haben also nicht nur ein Kirchen-, oder ein demographisches Problem, sondern es gibt auch ein grundsätzliches Desinteresse an Religion. Es ist zumeist nicht bekannt, dass Menschen, die aus der Kirche austreten, eine andere religiöse Praxis aufnehmen oder in eine andere kirchliche Gemeinschaft eintreten. Ihnen fehlt schlichtweg nichts ohne Gott und Kirche.

Die Liste von Gründen und Analysen dazu ist lang. Und die Kirche bietet genug Potential, dass man sich an ihr ärgert und Abstand nimmt. Manchmal lohnt es aber auch auf das "Praxiswissen" von erfahrenen Seelsorgerinnen und Seelsorgern zu hören. Viele fragen sich angesichts der über Jahre sinkenden Beteiligungszahlen an den Angeboten ihrer eigenen Pfarrei, was sie persönlich – neben "der Kirche" – falsch gemacht haben. Sehr geschätzte Seelsorger machen die Erfahrung, dass etwa "Säulen" der gemeindlichen Jugendarbeit, wenn sie beispielsweise ins Studium und dann zumeist in einen städtischen Kontext gehen, ihre religiöse Praxis aufgeben oder sogar aus der Kirche austreten. Das bedeutet häufig nicht, dass sie nicht dankbar für die "gute Zeit in der Gemeinde" wären, aber Kirche und Glaube werden vielen schlicht zu teuer, wenn man nicht direkt etwas davon hat. Manche Seelsorger erleben daher ihre pastorale Praxis als paradox: Auch dort, wo scheinbar alles gut war und die "Kirche einen guten Job" gemacht hat, sind andere Fliehkräfte stärker.

Diese wenigen Beispiele können zeigen: wir sollten die Frage nach der Zukunft der Kirche erweitern. Zum einen ökumenisch, weltkirchlich-international und dabei Erfahrungen aus der Praxis sowie außerhalb der katholisch etablierten "Blasen" ernst nehmen. Außerdem sollten wir nicht formal an den – theologisch eh sehr zweifelhaften – Kriterien deutscher Kirchenmitgliedschaft hängen. Denn häufig ist der Kirchenaustritt das Ergebnis eines jahre- oder jahrzehntelangen Entfremdungsprozesses, bei dem die sogenannten Skandale – zweifelsohne berechtigt – für viele nur den Tropfen bilden, der das Fass zum Überlaufen bringt. Zugleich entfremden sich freilich auch Menschen aus dem innersten Kern der Kirche von ihr, weil sie die Hoffnung auf Veränderungen aufgegeben haben. Das ist gerade inmitten der Reformüberlegungen sehr ernst zu nehmen.

Angesichts der Massivität der Zahlen scheint allerdings daneben auch die Frage wichtig, die der "Spiegel" pointiert kürzlich in folgende Aussage kleidete: "Das religiöse Produkt des Christentums scheint 2.000 Jahre nach seiner Entstehung an Attraktivität verloren zu haben". Erleben wir heute nicht auch eine "Relevanzkrise des Evangeliums"? Benötigen Menschen im 21. Jahrhundert noch einen Gott, der etwa seinen Sohn hingegeben hat, "zur Vergebung der Sünden" – wie vernünftig oder verständlich man das auch immer versucht in moderne Kategorien zu übersetzen? Wird nicht etwa die Schuldfrage häufig völlig anders gelöst: Unschuldig oder Unhaltbar (also Rücktritt von allem Ämtern) oder aber mithilfe der hohen "Kunst, es nicht gewesen zu sein?" (O. Marquardt). Und ist es nicht der Imperativ unserer Zeit aus dem "Stigma ein Charisma" zu machen, immer mit dem Ziel, dabei in jedem Fall zustimmungsfähig zu bleiben (Stichwort: Like-Kultur)? Der Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han deutet solche Phänomene mit dem Begriff einer "Positivgesellschaft", die versucht, alles Negative zu eliminieren, schnell beherrschbar zu machen bzw. zu überspielen und sogar den Tod schlicht als ein stimmloses "Ende gesellschaftlicher Produktion" zu deuten. Alles Wesentliche muss vorher stattfinden. Wenn das zutrifft, dann könnte die Herausforderung christlicher Verkündigung und Prophetie künftig gerade darin bestehen, nicht in alte, etwa kulturpessimistische Ressentiments zu verfallen (denn vielleicht sind ja auch "wir" Christinnen und Christen bisweilen Teil dieser Logik). Eine wichtige Aufgabe wäre es vielmehr, den Glauben als etwas anzubieten, das "mehr als notwendig" (E. Jüngel) ist – also bereichernd werden möchte, auch wenn ihn offensichtlich immer weniger Menschen "brauchen".

Eine junge Frau betet.
Bild: ©Fotolia.com/ilfotokunst

Selbst engagierte Jugendliche verlieren das Interesse an der Kirche, wenn sie aus der Heimatgemeinde weggehen, zum Beispiel zum Studium.

Der Pastoraltheologe Ottmar Fuchs gebrauchte einmal einen schönen Vergleich: Unsere Pastoral sei sehr (volkskirchlich) von den biblischen Bildern des "galiläischen Frühlings" geprägt. Dort heißt es "Die ganze Stadt versammelte sich vor der Tür!" (Mk 1,33), oder "Alle suchen Dich" (Mk 1, 36). Ob gerade letzteres in der Zeit volkskirchlicher Pastoralmacht wirklich so war, sei dahingestellt. Allerdings: wir merken, dass diese Bilder pastoral einerseits sehr wirksam sind, zugleich aber die Realität eine andere Sprache spricht. Braucht es daher nicht neue Bilder für unsere Pastoral bzw. Kirche(n) – unter anderem in Verantwortung für diejenigen, die sich auch heute noch auf einen pastoralen Beruf vorbereiten möchten?

Vergebliche Suche nach Stellschrauben

Der Magdeburger Bischof Gerhard Feige hat in seinem vergangenen Jahr erschienen Buch "Anders katholisch" für die Kirche Mittel- und Ostdeutschlands das Stichwort der "schöpferischen (!) Minderheit" aufgegriffen. Für die Situation in den Niederlanden scheint dieses ebenfalls ein passendes Leitbild, mittel- bis langfristig vielleicht auch für andere europäische Länder. Wer aus den Bildern der "Fülle" kommt, wird hier womöglich erst mal schlucken müssen. Dennoch: die neuesten Zahlen sowie die schon jahrzehntealte, weitgehend doch vergebliche Suche nach Stellschrauben könnten der Anlass sein, sich gerade inmitten vielfältiger Reformdialoge auch mit diesem Bild auseinanderzusetzen. Es muss weder eine "kleine Herde" meinen, die weltscheu, glaubensstark und erwählungsbewusst auf den Himmel schaut (als welche das Bild einer schöpferischen Minderheit bisweilen auch verstanden wird), noch ein Art exklusives "Rückzugschristentum" wie es auf dem Weg in eine neue gesellschaftliche Rolle zur Versuchung werden kann. Eher könnte es den offenen und kreativen, gerade nicht verlustängstlichen Umgang mit einer Situation bedeuten, wie sie nun mal ist.

Hierüber wäre zu sprechen. Etwa mithilfe folgender Fragen: Für wen möchten wir relevant sein? Für ein wie auch immer geartetes "System", oder ist die Lebensdienlichkeit unserer Botschaft das Ziel, weil wir glauben, dass diese wirklich zur Bereicherung werden kann, allerdings nicht werden muss? Wie werden überdies Christinnen und Christen über ihre "Katholizität", verstanden als ausbalancierte Diversität (auch die Urkirche kannte schon Christen, die der Eucharistie fernblieben), über ihr diakonisches Handeln sowie durch eine andere (wenn man so will "erlöste") Perspektive auf die Wirklichkeit identifizierbar? Letztlich geht es um die Herausforderung, gesellschaftlich antreffbar und wirksam zu bleiben, auch wenn man zahlenmäßig kleiner wird und über weniger finanzielle Mittel verfügt. Sicher müssen Prozesse einer Transformation der kirchlichen Rolle mit Trauerphasen einhergehen. Diese sowie das Motto "Retten, was zu retten ist und halten, was zu halten ist" (G. Greshake) sollten allerdings nicht die alleinige Regie übernehmen. Schließlich: Das Motto des damaligen Mainzer Seminaristentages könnte auch für ein künftiges Kirchenbild passen: "gottgeweiht und weltgewandt" – gemeint allerdings für das ganze Gottesvolk!

Von Jan Loffeld

Linktipp: Kirchliche Statistik 2019: Der große Schock – und keine Hoffnung mehr?

Noch nie haben so viele Menschen der katholischen Kirche den Rücken gekehrt wie in 2019. Konnten in den Jahren zuvor immer neue Kirchenaustritts-Rekorde oft noch kaschiert werden, so setzt nun auch bei den kirchlichen Verantwortlichen Ernüchterung ein. Gibt es noch Hoffnung für die Kirche? Eine Analyse.