Papst-Bruder und Kirchenmusiker: Ein Porträt zum Tode Georg Ratzingers
Die Wehwehchen des Alters seien natürlich spürbar, gab Georg Ratzinger stets zu, wurde er nach seinem Befinden gefragt. "Aber der Kopf funktioniert einwandfrei." Man musste ihm nur ein Stichwort geben, schon fiel dem früheren Regensburger Domkapellmeister eine Anekdote ein. Aus seinem Leben oder aus dem seines kleinen Bruders, der 2005 zum Papst gewählt und damit zu Benedikt XVI. wurde. Der für ihn aber weiter einfach "der Joseph" blieb, mit dem er ein Leben lang verbunden war - bis zuletzt. Am Mittwoch nun starb Georg Ratzinger im Alter von 96 Jahren in Regensburg.
Benedikt XVI. war am 18. Juni überraschend zu seinem älteren Bruder mit kleinem Gefolge nach Regensburg gereist, um ihm noch einmal nahe zu sein. Es war ein schwerer Gang für den 93-Jährigen, um dessen Gesundheit es ebenfalls nicht mehr zum Besten bestellt ist. Der Besuch war als privat deklariert, doch die Diskretion währte nicht lang. Fünf Tage blieb der frühere Papst und nutzte jeden davon, um stundenweise bei seinem Bruder zu sein. Berichterstatter und Schaulustige verfolgten vor seinem Haus in der Regensburger Altstadt, wie der Malteser-Wagen den Kirchenmann im Rollstuhl brachte und wieder mitnahm.
Der am 15. Januar 1924 in Pleiskirchen bei Altötting geborene Georg war das zweite Kind des Gendarmen Joseph und seiner Frau Maria. Seine Schwester Maria war drei Jahre zuvor zur Welt gekommen. Vor allem aber verband ihn viel mit seinem drei Jahre jüngeren Bruder Joseph. Beide schlugen die Priesterlaufbahn ein. "Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie mein Leben anders hätte verlaufen können", betonte Georg Ratzinger einmal. Er sei dem lieben Gott von Herzen dankbar, dass dieser ihm die Kraft dazu gegeben habe, diesen Weg ohne Wenn und Aber durchzuziehen.
Doch der Zweite Weltkrieg sorgte für einen Einschnitt. Georg wurde zum Reichsarbeitsdienst eingezogen, dann zur Wehrmacht, wo er als Funker bei der Nachrichtentruppe dienen musste, erst in Frankreich, dann in Holland und der Tschechoslowakei. 1944 wurde er an die italienische Front geschickt und dort verwundet. Erst an einem heißen Julitag 1945, die Familie hatte lang nichts mehr von ihm gehört, kehrte Georg gesund nach Hause zurück.
Plötzlich sei er wieder "in unserer Mitte" gestanden und intonierte sofort auf dem Klavier dankbar und erlöst das "Großer Gott, wir loben dich", erinnert sich sein jüngerer Bruder. Beide studierten in Freising Theologie und wurden gemeinsam 1951 zum Priester geweiht. Während Joseph sich der Wissenschaft zuwandte, entschied sich Georg für ein Studium der Kirchenmusik an der Musikhochschule München.
Hoffnung auf einen gnädigen Gott
Als Domkapellmeister bestritt er später mit den Regensburger Domspatzen zwischen 1964 und 1994 über 1.000 Konzerte im In- und Ausland. Dadurch mehrte sich der internationale Ruf des Knabenchores mit seiner mehr als 1.000-jährigen Tradition. Im Heiligen Jahr 2000 konnte er seine Eigenkomposition Missa "L'anno santo" im Regensburger Dom uraufführen.
An Ratzingers Selbstdisziplin erinnern sich frühere Schützlinge noch heute. Legendär sind auch seine Wutausbrüche. Der 2017 veröffentlichte Abschlussbericht zur Aufklärung von Missbrauch und Gewalt bei der Erziehung der Domspatzen bescheinigte den Verantwortlichen, dass das ganze System einschließlich der Ära Ratzinger auf den Erfolg des Chores ausgelegt gewesen sei. Mit einem "Dreiklang aus Gewalt, Angst und Hilflosigkeit" sollte der Wille der Schüler gebrochen und ihnen ihre Persönlichkeit genommen werden.
Ratzinger persönlich musste sich vor allem vorwerfen lassen, weggeschaut zu haben und trotz Kenntnis von Gewaltvorfällen nicht eingeschritten zu sein. Eigene Verfehlungen wie Ohrfeigen während der Chorproben hatte er schon 2010 in einem Interview eingeräumt und angegeben, dabei stets ein schlechtes Gewissen gehabt zu haben. "Ich war dann froh, als 1980 körperliche Züchtigungen vom Gesetzgeber ganz verboten wurden." An diese Maßgabe habe er sich "striktissime" gehalten.
Mit der Wahl seines Bruders zum Papst begann 2005 für Georg die ungeplante zweite Karriere. Vom engsten Verwandten des Kirchenoberhaupts wollte nun alle Welt wissen, wie Benedikt XVI. denn so ticke. Einiges ließ er sich entlocken; kirchenpolitische Kommentare aber fast nie.
Öffentlich trat Ratzinger zuletzt nur noch selten auf, und wenn, dann bei Terminen, die im Zusammenhang mit seinem Bruder standen. Der Gedanke, an der Schwelle zur ewigen Heimat zu stehen, beschäftigte ihn schon länger, sagte er einmal. Und dass er auf einen gnädigen Gott hoffe.