Marx: Manchem ist Vorstellung fremd, dass Kirche auch zu lernen hat
Die Kirche muss nach Worten des Erzbischofs von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, die Zeichen der Zeit lesen. Es gelte, sich zu fragen, "was will Gott uns in dieser Stunde auch jetzt sagen", sagte Marx am Montag im Deutschlandfunk. Auch heute noch sei offenbar manchem die Vorstellung fremd, "dass die Kirche auch zu lernen hat". Lehren gelte es nicht nur aus biblischen Texten und kirchlichen Traditionen zu ziehen, sondern auch etwa von freiheitlichen Bewegungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Freiheitliche Bewegungen müssten sich ihrerseits in das einbetten lassen, was die katholische Soziallehre als Gemeinwohl bezeichne, sagte der frühere Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) weiter. Dies gelte für Bewegungen gegen Sklaverei und Unterdrückung sowie jene, die sich für Wahlfreiheit einsetzten. Darunter verstehe er auch "Freiheit, in einer Gesellschaft zu leben, wo anerkannt wird, dass man sich auch religiös anders entscheiden kann." Marx hat im Mai ein Buch über Freiheit veröffentlicht.
Er selbst habe im Lauf seines Lebens erkannt, auf wie viele Arten der Mensch begrenzt sei, erklärte der Kardinal: "Mein Intellekt hat Grenzen, meine Zeit hat Grenzen." Hinzu kämen sprachliche und kulturelle Grenzen. Insofern gebe es absolute Freiheit und Autonomie nicht. Zudem würde völlige Freiheit "nicht nur in die Anarchie, sondern auch in die Aggression" führen. Marx verwies auf das biblische Buch Exodus, in dem Gott sein Volk befreie und beide danach einen Bund miteinander schlossen: "Die Freiheit findet ihre Vollendung erst, wenn ich Ja sage zu einer Bindung", erläuterte der Erzbischof. "Bindung ist kein Hindernis für die Freiheit, sondern Voraussetzung."
Marx: Freiheitliche Gesellschaft ist kein Selbstläufer
Die freie Gesellschaft und wechselseitiger Respekt sollten nicht als selbstverständlich betrachtet werden, so Marx weiter. Viele Menschen hätten sich daran gewöhnt, "dass das eigentlich so ein Selbstläufer ist - und das ist es nicht". Die Gesellschaft müsse darauf achten, "dass wir nicht zurückfallen in autoritäre Vorstellungen von Schwarz und Weiß, homogene Gesellschaften", mahnte der Kardinal. Vor 20 Jahren hätte er noch nicht für möglich gehalten, dass "solche Populismen und Nationalismen" bis in die Kirche hinein ihren Platz finden könnten, so Marx weiter. Die Furcht vor der Freiheit sei häufig ein Ausgangspunkt, von dem aus Menschen sich zurückzögen "in eine klare Ideologie, in Verschwörungstheorien, in bestimmte Vorstellungen, die nicht mehr offen sind".
Er befürchte, dass Ungleichheiten und soziale Spannungen in Folge der Corona-Pandemie wachsen könnten, fügte der Erzbischof hinzu. Viele Menschen, die es in puncto Bildung oder Vermögen schon vor der Krise schwerer gehabt hätten, seien nun in einer noch schlechteren Lage. Insofern hätten sich bestimmte Entwicklungen beschleunigt und verstärkt. Zugleich habe Corona gezeigt, "wie zerbrechlich unser Leben ist, wie kostbar unser Leben ist, dass Freiheit und Verantwortung zusammengehören und dass Freiheit, eine freie Gesellschaft nur existieren kann, wenn Menschen aufeinander achten", betonte Marx. Die Pandemie sei eine unerwartete Bedrohung gewesen. "Es gibt ja auch andere Bedrohungen der Freiheit, aber vielleicht haben wir gelernt, wie kostbar die Freiheit ist und wie sehr wir uns auch anstrengen müssen, eine Kultur der Freiheit zu bewahren.". (tmg/KNA)