Missbrauchsverdacht gegen Kentenich: "Die Wahrheit muss ans Licht"
Bisher schien der Schönstatt-Gründer Pater Josef Kentenich auf dem Weg zur Seligsprechung – doch nun werfen neue Archivfunde einen Schatten auf den Vater der Bewegung: In den Akten aus dem Pontifikat Pius XII. (1939–1958), die erst seit kurzem im Vatikanischen Archiv zugänglich sind, sind Missbrauchsvorwürfe aufgetaucht. Entdeckt hat sie die Historikerin Alexandra von Teuffenbach, die dort zur Geschichte der Konzilien forscht. Im Interview erzählt sie, was sie gefunden hat, wie sie mit ihren Ergebnissen umgeht – und was sie von der Schönstatt-Bewegung erwartet. (Das Interview wurde vor der Ankündigung des Bistums Trier geführt, eine neue Historikerkommission zur Prüfung der neu zugänglichen Archivteile einzusetzen.)
Frage: Frau von Teuffenbach, eigentlich forschen Sie in den Archiven des Vatikans zu den Konzilien. Wie sind Sie dabei auf die Unterlagen zu Pater Josef Kentenich gestoßen?
Alexandra von Teuffenbach: Dafür ist das Schönstatt-Werk selbst verantwortlich. Vor über fünfzehn Jahren habe ich in einer Serie über Konzilspersönlichkeiten einen Artikel über Sebastian Tromp geschrieben. Ich hatte nur ganz kurz erwähnt, dass er der Apostolische Visitator von Schönstatt war. Ich erhielt zwei Anrufe aus dem Umfeld des Schönstatt-Werks. Beide Male wurde ich sehr detailliert befragt, was ich wüsste, woher ich das hätte, welche Archive ich gesehen hätte. Die Fragen waren so seltsam, dass ich mir das gemerkt hatte, obwohl schon so viele Jahre vergangen sind: Da muss etwas sein. Als dann die Archive aus der Zeit von Papst Pius XII. geöffnet wurden, habe ich nach Tromp gesucht – was ohnehin mein Forschungsgebiet betrifft. Ich bin dann schnell auf die ersten Briefe der Schwestern gestoßen, die Kentenich verteidigen. In einem Brief an den Papst war die Rede von sittlichen Verfehlungen Kentenichs – da wurde ich hellhörig und bin auf die Suche gegangen. So habe ich dann die ganze Akte des Heiligen Offiziums gefunden. Und dann war mir auch klar, warum Schönstatt so viel Interesse an meinem kleinen Artikel über Tromp hatte.
Zur Person
Alexandra von Teuffenbach ist Dogmatikerin und Kirchenhistorikerin. Die Italienerin wurde mit einer Arbeit zur Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils promoviert und forscht derzeit zu den Geschäftsordnungen des Ersten und Zweiten Vatikanischen Konzils. 2003 legte sie am Vatikanischen Geheimarchiv die Archivarsprüfung ab.Frage: Hatten Sie den Eindruck, dass dem Schönstatt-Werk das alles schon bekannt war? Oder ging es bei den Anrufen darum, Gerüchte zu überprüfen?
von Teuffenbach: Ich vermute, dass man Bescheid wusste. Schließlich habe ich Briefe gefunden, die an das Werk gerichtet waren. Sicher kann ich daher sagen: Damals wussten sie Bescheid, mindestens ab 1951. Ob in der Zwischenzeit Akten vernichtet wurden, weiß ich nicht. Ich kenne die Archive des Schönstatt-Werks nicht. Während der Apostolischen Visitation hat Tromp einen Brief an die Schönstatt-Oberen geschrieben, in dem er erläutert, warum in dem Visitationsdekret nichts zu den mutmaßlichen sittlichen Verfehlungen steht: Nur weil etwas nicht im Dekret stehe, heiße das nicht, dass es auch nichts gebe. Man wolle Schönstatt aber nicht schaden. Dass die Vorwürfe nicht erwähnt wurden, war also eine Freundlichkeit des Heiligen Offiziums gegenüber dem Schönstatt-Werk. Mir liegen immer wieder Schreiben von deutschen Bischöfen aus dieser Zeit vor, die ihre Schönstattpriester nicht verlieren wollten – am Bestehen Schönstatts gab es also ein kirchliches Interesse. Daher der Gedanke bei der Visitation: Wir trennen das Werk vom Gründer und versuchen es so zu retten. Die Visitation galt hauptsächlich den Marienschwestern, deren Beitrag zur Seelsorge und durch karitative Werke geschätzt wurde. Hauptsächlich war das Hl. Offizium aber an den Schönstatt-Priestern interessiert.
Frage: Wenn man das Werk erhalten und Kentenich davon trennen wollte – wie konnte es bei dieser ausführlichen Aktenlage zu der Rehabilitierung Kentenichs nicht einmal fünfzehn Jahre später kommen?
von Teuffenbach: Wenn es denn eine "Rehabilitierung" gab! Das habe ich in keiner Akte gefunden, und Schönstatt hat seine Dokumente nicht veröffentlicht. Das Werk spricht immer von einem "Aufhebungsdekret". Bisher hat mir das aber noch keiner gezeigt.
„Bisher hat mir noch keiner das Aufhebungsdekret gezeigt.“
Frage: Eine Tatsache ist aber doch, dass Kentenich 1965 wieder aus dem Exil nach Deutschland zurückkehren konnte.
von Teuffenbach: Zwei Dinge sollte man dabei bedenken. Erstens: Kentenich war damals schon sehr alt. Selbst einen Mörder lässt man frei, wenn er alt ist und keine Gefahr mehr darstellt. Das heißt aber nicht, dass er die Tat nicht begangen hat, das heißt auch nicht, dass es eine Rehabilitierung gab – nur eine Freilassung. Das zweite: 1965 fällt noch in die Zeit des Konzils. Am Ende vieler Konzilien gibt es ein "Gnadenjahr". Alle sind glücklich, das Konzil mit Erfolg zu Ende gebracht zu haben, jetzt kommt die große Begnadigungswelle. Das gab es früher schon, das gab es auch beim Zweiten Vatikanum – so etwas gehört zum Geist eines Konzils. So etwas kann ich mir als Erklärung vorstellen. Ich kenne aber keine Akten dazu.
Frage: Wie sehen Ihre Funde aus? Handelt es sich um systematisch geführte Akten oder nur ein Konvolut von Notizen und Zetteln?
von Teuffenbach: Es handelt sich um die offiziellen "Prozessakten" mit allem, was dazugehört: Briefe, Antworten darauf, Darstellungen und Gegendarstellungen. Mit Ausnahme von Abschriften von Dokumenten und Protokollen zu Gesprächen, auch mit Pater Kentenich, sind es kaum Privataufzeichnungen Tromps. In der offiziellen Geschichtsschreibung Schönstatts scheint es oft, als sei die Visitation ein Privatvergnügen Tromps gewesen. Es war aber eine Apostolische Visitation, keine Trompsche. Tromp hat die Aufgaben einer Spurensicherung. Natürlich kann der Ermittler auch Fehler machen. Aber das kontrolliert dann ein Untersuchungsrichter, es gibt einen Anwalt, einen Prozess, schließlich ein Urteil. So lief es auch im Offizium ab. Tromp lieferte seine Belege ab, die Konsultoren des Offiziums überprüften sie dann. Das waren übrigens zu dieser Zeit fast alles Ordensleute, die einschätzen können, ob ein belastender Brief einer ausgetretenen Ordensfrau plausibel ist oder bloßes Nachtreten. Anschließend gehen die Unterlagen an die Kardinalskongregation, schließlich wird alles dem Papst vorgelegt – und Pius XII. war einer, der immer alles genau wissen wollte, bevor er etwas unterschrieb. Das sind viele Schritte, und recht schnell hatte Tromp überhaupt nichts mehr zu sagen.
Frage: In ihren Veröffentlichungen stellen Sie der Kirche ein gutes Zeugnis aus; man habe sich stets bemüht, den Betroffenen Glauben zu schenken und sie Ernst zu nehmen. Ist so eine positive Bewertung angemessen angesichts der Tragweite der mutmaßlichen Taten Kentenichs, die letzten Endes keine Konsequenzen für das Schönstatt-Werk hatten?
von Teuffenbach: Im Grunde ja. Ich habe mich gewundert, wie sachlich der Prozess geführt wurde, wie viele Gegenstimmen eingeholt wurden, auch von Leuten, die dem Offizium gar nicht angehörten. Es wurden eigens Ausnahmen gemacht, damit diese Leute die Akten einsehen und Stellung nehmen konnten. Die Briefe jeder einzelnen Schwester, die sich an den Papst wandte, wurden Pius XII. vorgelegt, und er hat hin und wieder am Rand zusätzliche Prüfungen angeordnet. Die Schwestern wurden sehr ernst genommen, ich habe nur eine einzige Stelle gefunden mit einem unguten Umgang: Ein deutscher Bischof hat lange nach der Visitation geschrieben, er hielte Tromp als Visitator für ungeeignet, weil er alles zu rational ansehe, aber die betroffenen Frauen seien ja nicht rational, "sie können nicht denken, sind nur Gefühl", stand da sinngemäß. In den Unterlagen sind auch viele Zeugen belegt, die für Schönstatt sprechen. Und es gibt Belege für eine Kampagne Schönstatts, auf die viele fast gleichlautende Briefe hindeuten – das war nicht so geschickt.
Frage: Die Verteidigungslinie des Generalpräsidiums des Schönstatt-Werks ist, dass das Seligsprechungsverfahren 1975 nie aufgenommen worden wäre, wenn die Vorwürfe stimmten, schließlich gebe es ein "Nihil obstat" der Glaubenskongregation. Tatsächlich stellt sich die Frage: Wenn das alles so gut dokumentiert war – warum wurde 1975 das Verfahren nicht sofort beendet?
von Teuffenbach: Um das zu bewerten, muss man die Verfahren kennen. Es ist nicht so, dass vor dem "Nihil obstat" eine Archivrecherche stünde. Um das umfassend zu klären, müsste ein Historiker normalerweise mehrere Jahre in den Archiven forschen. Das wäre im Falle Kentenichs zwar einfacher gewesen, weil die Akten der Visitation gut aufbereitet sind und in vatikanischen Archiven liegen. Aber bei älteren Prozessen sind die Akten über die ganze Welt verstreut, eine Recherche wäre viel zu aufwendig. Daher funktioniert das Verfahren seit alters her so, dass der Antragsteller die Akten bringt, und auf dieser Grundlage wird ein "Nihil obstat" erteilt. Diese Unbedenklichkeitserklärung gilt auch im Fall von Schönstatt wohl nur für die Unterlagen, die das Werk selbst beigebracht hat. Im Übrigen war es wahrscheinlich auch nicht die Glaubenskongregation, wie von Schönstatt angeführt, sondern wohl die Heiligsprechungskongregation, die dafür zuständig war.
„Ich bin kein Feind von Schönstatt und war es nie.“
Frage: Nun war aber der ehemalige Visitator Bernhard Stein mittlerweile Bischof von Trier – von 1967 bis 1980, also genau in der Zeit zwischen Kentenichs Tod und den ersten Jahren des Seligsprechungsverfahrens. Warum hat er sich nicht zu Wort gemeldet?
von Teuffenbach: Dazu kann ich nichts sagen. Diese Akten sind in den vatikanischen Archiven noch nicht freigegeben, daher kenne ich sie nicht. Das Schönstatt-Werk könnte sie aber haben – mein Appell ist daher auch hier an das Werk: Rückt die Akten raus, stellt sie für alle zugänglich ins Netz. Das nützt allen Beteiligten.
Frage: Die ersten Reaktionen aus dem Schönstatt-Werk waren sehr abwehrend. Kann die Bewegung überhaupt ein Interesse daran haben, dass das alles öffentlich wird?
von Teuffenbach: Mich würde es freuen, wenn sich für Schönstatt daraus etwas Positives entwickelt, wenn das Werk ehrlich mit der Vergangenheit umgehen könnte – ohne Geheimnisse hüten zu müssen. Aber das hat nichts mit meiner Arbeit zu tun. Ich habe eine historische Studie in Archiven betrieben und habe die Ergebnisse zunächst nicht als wissenschaftlichen Artikel veröffentlichen wollen. So konnte ich sie einem breiteren Publikum bekannt machen, wie das doch oft bei zeitgeschichtlichen Themen üblich ist. Dabei wollte ich etwas Licht in die Geschichte einer Gemeinschaft und einer Person bringen. Denn leider war das, was ich in den Archiven las, bislang der Öffentlichkeit und wie ich aus den Reaktionen sehe, auch den meisten Schönstatt-Mitgliedern nicht bekannt.
Frage: Auch wenn Kentenich vor 1948 in seinem Verhalten tadellos scheint: Aus heutiger Sicht wirken Begriffe wie "Liebesbündnis" und "Vaterprinzip" befremdlich und latent übergriffig. Sind das nur heutige Sensibilitäten? Wurden solche Elemente der Schönstätter Spiritualität auch schon zu seiner Zeit problematisiert?
von Teuffenbach: Die Begriffe sind bei beiden Visitationen ein Problem. Man hatte schon bei der ersten Visitation durch Bischof Stein vorgegeben, manche Wortwahl zu überdenken, weil es für Außenstehende seltsam oder doppeldeutig klingt. Problematisiert wurde aber nicht in erster Linie die Wortwahl, auch nicht die Pädagogik oder die Theologie Schönstatts. Im Zentrum der Kritik stand der Umgang mit den Marienschwestern.
Frage: Als Historikerin untersuchen Sie die Vergangenheit. Kann man aus Ihrer Sicht aus Ihren Forschungsergebnissen für den Umgang mit Missbrauch in der Kirche heute lernen?
von Teuffenbach: Im Umgang mit den Vorwürfen gibt es Aussagen, die mich sehr gestört haben. In einer Reaktion von Schönstatt habe ich gehört, man wisse nur von einem Fall, da sei aber die Anklägerin schizophren gewesen. Diese Aussage bedeutet doch: Eine schizophrene Frau kann nicht missbraucht werden. Das finde ich entsetzlich. Natürlich können Betroffene auch psychische Probleme haben. Natürlich können Anklagen falsch sein. Es muss aber noch einiges wachsen in unserer Sensibilität im Umgang mit Betroffenen. Wir dürfen ihre Aussagen nicht einfach abtun.
Außerdem habe ich noch einen Verfahrensvorschlag für die Kirche: Nämlich den alten "Advocatus diaboli" in Selig- und Heiligsprechungsprozessen wieder einführen. Das ist ein Gegner, der alles herausfinden muss, was gegen eine Kanonisierung spricht. Diese Rolle gibt es nicht mehr. Die Verfahren würden an Objektivität gewinnen, wenn jemand systematisch dagegen arbeiten würde.
Frage: Für Ihre Veröffentlichung haben Sie einen Artikel in der Tagespost und einen Brief an den Vatikan-Journalisten Sandro Magister gewählt. Warum diese Form und keine wissenschaftliche Publikation?
von Teuffenbach: Mein Artikel ist nur der Vorspann einer wissenschaftlichen Publikation. Ich dachte zuerst an einen Artikel in einer Fachzeitschrift. Nachdem es jetzt aber so großes Interesse gibt, scheint mir eine Edition der Prozessakten besser geeignet zu sein. Ich suche nur noch einen Verlag. Die Texte sind ediert, es ist nur noch eine Frage des Drucks, bis die wissenschaftliche Veröffentlichung kommt.
„Wir könnten uns gegenseitig dabei helfen, die Wahrheit ans Licht zu bringen.“
In einer solchen Edition könnten momentan aber nur die Dokumente auftauchen, die im vatikanischen Archiv freigegeben sind.
von Teuffenbach: Ja. Ich kann Schönstatt nur bitten, das Material aus deren Archiven herauszugeben und so die Diskussion auf eine ganz neue sachliche Basis zu stellen. Wir könnten uns gegenseitig dabei helfen, die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Was war ihre persönliche Motivation, an die Öffentlichkeit zu gehen?
von Teuffenbach: Ich bin kein Feind von Schönstatt und war es nie. Ich mag nur nicht, wenn man die Falschen auf ein Podest hebt und Personenkult um sie betreibt. Für mich war es daher eine Gewissensfrage, an die Öffentlichkeit zu gehen. Bin ich still und lasse das weiterlaufen, oder sage ich etwas? Ich habe mich dann für die Veröffentlichung entschieden, wohlwissend, dass ich damit Menschen verletze, die ein Leben lang dachten, sie hätten einen Heiligen vor sich. Aber es ist die Wahrheit, die uns frei macht, und nicht irgendwelche Märchen.