Kolumne: Unterwegs zur Seele

Reisen: Flucht vor dem Alltag oder Erholung für die Seele?

Veröffentlicht am 16.07.2020 um 17:30 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Kaum gibt es die ersten Corona-Lockerungen, fangen die Deutschen wieder an zu reisen. Steckt hinter diesem Bedürfnis auch eine Flucht vor sich selbst - gepaart mit Egoismus auf Kosten der Umwelt? Es liegt in unserer Hand, meint Kolumnistin Brigitte Haertel.

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Während das Corona-Virus ungehindert um die Welt reiste, zwang der sogenannte Lockdown uns Deutsche daheim zu bleiben – uns, die Weltmeister des Reisens. Kaum waren die ersten Lockerungen in Kraft, stürmten Armeen von Reisewütigen deutsche Strände, Berge und Seen.

Je prächtiger jemand wohnt, umso öfter packt er seine Koffer

Warum reisen wir eigentlich so viel und so gern? Das Unterwegs-Sein ist das Dasein, und je prächtiger jemand wohnt, umso öfter packt er/sie seine Koffer. Nix wie weg! Ist das Credo all jener, die es sich leisten können. Wer sollte etwas dagegen haben, außer der Umwelt vielleicht? Schließlich ist Reisen auch die Metapher fürs Leben – vom Geburtskanal bis zur letzten großen Reise, die durch den Tunnel zum Licht und damit zu Gott führen soll.

Aber wahr ist auch: Das Leben glänzt zu Hause, oder es glänzt nirgendwo. Nun ist das Fernweh einmal in der Welt, das Reisen, die Lust auf Abenteuer und Entdeckung scheint uns Menschen innezuwohnen – denn so alt wie die Menschheit ist das Nomadentum.

Vor zweitausend Jahren reiste ein Wanderprediger durch Galiläa und kündete den Menschen von Liebe und Nächstenliebe - der Apostel Paulus trug die Botschaft Jesu in die Welt. Gut 1000 Jahre später machten sich Eroberer und Entdecker auf, neue Welten zu erkunden. Der Adel des 16. und 17. Jahrhunderts pflegte die feudale "Grand Tour", das Bürgertum suchte und erahnte Bildung im Reisen, und die Gesellenwanderschaft ist in manchen Gegenden bis heute Brauch. Religiöse Seelen entdeckten das Pilgern als Pfad zu Gott und zu sich selbst, weswegen der Jakobsweg heute bevölkert wird wie nie. Wer als Student nicht wenigstens ein Auslandssemester vorzuweisen hat, gilt als "Sitzenbleiber". Geschäftsreisende, Urlauber und Individualreisende beherrschen die Flughäfen und Bahnhöfe der Erde – jedenfalls in normalen, Nicht-Corona-Zeiten.

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Video: © Pia Dyckmans

Was packe ich in meinen Koffer ein, wenn Jesus mit auf Reisen ist? Max Heine Geldern SJ und seine "One Minute Homily".

Das heutige Reisen, so hat es den Anschein, gleicht mehr einer Flucht als einer existentiellen Selbsterfahrung. Vordergründig begreifen wir das Reisen als Unterbrechung der Routine, aber steckt vielleicht mehr dahinter? Das jedenfalls behaupten sogenannte Lebensberater, die den Dauerreisenden "Flucht vor sich selbst" diagnostizieren. Das mag für den einen oder anderen zutreffen, als Generalverdacht taugt es nicht.

Aber ist Reisen auch gut für die Seele? Soziologen und Psychologen sind sich ungewohnt einig: Reisen mit seinen positiven Effekten wie Entspannung, Sport und Naturgenuss wirken sich heilsam auf Körper und Seele aus.

Traum vom Paradies lässt sich auf Erden nicht verwirklichen

Sicher, auch Reisen können enttäuschen und sich als Illusion entpuppen. Zudem hat das Reisen seinen einstigen Glamourfaktor durch massenhafte Pauschalreisen stark eingebüsst. Für die meisten Menschen, die schon viel gesehen und erlebt haben in ihrem Leben, wird es irgendwann zur Gewissheit: Der Traum vom Paradies lässt sich auf Erden sowieso nicht verwirklichen.

Und dennoch: Besonnenes, durchdachtes Reisen, der Aufbruch ins Unbekannte, der Maßhalten und Rücksichtnahme einschließt, gehört mit zum Schönsten, was das Leben uns Menschen zu bieten hat.

Von Brigitte Haertel

Die Autorin

Brigitte Haertel ist Redaktionsleiterin von "theo – Das Katholische Magazin".

Hinweis: Der Artikel erschien zuerst im "theo"-Magazin.