Christentum, Judentum, Islam: Wie Religion radikal wird
Mitten im pulsierenden Leben New Yorks gibt es Menschen, die davon nichts mitbekommen: Denn im Stadtteil Williamsburg leben chassidische Gemeinden, Mitglieder von ultraorthodoxen jüdischen Gruppen, die sich der Welt um sie herum völlig verschließen und deren Leben aus der Befolgung strengster Regeln besteht. Gleichzeitig sorgt der islamistische Terrorismus für Angst und Schrecken oder junge Männer ziehen in christlicher Mission "für Gott" in die Ostukraine, um dort gegen das "schwule, dekadente Europa" zu kämpfen.
Religiöser Fundamentalismus und religiöse Radikalisierung sind heute allgegenwärtig und betreffen alle Religionen. Obwohl ihre Vertreter oft ähnliche Beweggründe haben, sind die Folgen sehr verschieden. Wer fundamentalistisch denkt, richtet das gesamte Leben an heiligen Texten und religiösen Geboten aus, andere Einflüsse werden aus dem eigenen Leben oft ferngehalten. Radikale gehen noch einen Schritt weiter: Sie wollen dafür sorgen, dass die gesamte Gesellschaft ihre Glaubensansichten teilt und sich nach diesen Regeln richtet. Sie wollen andere Menschen also überwältigen; das kann – muss aber nicht – durch Gewalt geschehen.
Warum Menschen zu religiösen Radikalen werden, lässt sich ganz schwer auf einen Nenner bringen. Es gibt aber Übereinstimmungen in den Biografien zahlreicher späterer Radikaler. Viele teilen etwa die Erfahrung persönlicher Krisen: Sie sind als Jugendliche auf die schiefe Bahn geraten, ihre Eltern sind gestorben, haben sich getrennt oder sind seit langer Zeit arbeitslos. Nicht selten müssen die Jugendlichen auch mit eigenem Scheitern – etwa in der Schule – oder Diskriminierung umgehen.
Einfache Antworten auf komplexe Fragen
In einer solchen Situation können diese jungen Menschen dann auf Leute treffen – in der Schule oder Freizeit, zum Teil auch im Gefängnis –, die ihnen scheinbar einfache Antworten und Erklärungen für ihre Situation liefern: In dieser (vorgeblich ungläubigen) Gesellschaft könnten sie eh nichts erreichen. Sie müssten sich auf ihre Wurzeln besinnen und sich wehren, dann könnten sie stark sein. Die krisengebeutelten Jugendlichen kommen jetzt mit einer radikalen Gruppe in Berührung, die ihnen mit einer klaren, schlichten Ideologie Halt und ein Selbstwertgefühl gibt. Der französische Politikwissenschaftler Olivier Roy fasst sie zusammen als jene, "die nach einem sehr profanen Leben (Clubs, Alkohol, Kleinkriminalität) plötzlich zur Religiosität zurückfinden, und zwar entweder individuell oder in einer kleinen Gruppe (nie im Rahmen einer religiösen Organisation)", schreibt er in seinem jüngsten Buch "Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod". Es ist wichtig festzuhalten, dass diese Radikalisierung kaum in herkömmlichen religiösen Zusammenhängen stattfindet. Es radikalisieren sich nicht in erster Linie die bereits Religiösen, sondern die, die mit Religion vorher nicht viel zu tun hatten. Gruppen bilden sich entweder um eine starke Persönlichkeit herum oder es handelt sich um "eine Gruppe Kumpels oder Freunde, die sich mal seit der Kindheit kennen, mal im Gefängnis oder auch in einem Ausbildungslager begegnet sind", formuliert es Roy.
In diesen Gruppen beginnen nun innere Prozesse, die die Mitglieder weiter radikalisieren: Sie fangen an, sich gegenseitig zu beobachten; jeder will der Beste, der Frommste, der Radikalste sein. Nach außen hin schließen sie sich immer mehr ab, Kontakte zu Familie und Freunden werden oft auf Eis gelegt. Diesen Schließungsprozess hat der Osnabrücker Islamwissenschaftler Michael Kiefer anhand einer Chatgruppe radikaler islamischer Jugendlicher erforscht: "Die Mitglieder haben sich gegenseitig aufgefordert, mit Angehörigen nicht mehr über bestimmte Dinge zu reden, sie über ihre Motive zu belügen und zu täuschen. Als einer aus der Gruppe zu einem Beratungsangebot musste, wurde ihm von der Gruppe vorgegeben, was er sagen sollte."
In diesem Abschottungsprozess schaukeln sich die Mitglieder immer weiter gegenseitig hoch, es entsteht ein Strudel, bis es zu einer Gewalttat kommt. Aus diesem Strudel kommen die Mitglieder in der finalen Phase kaum noch heraus, sagt Kiefer. "Das geht erst, wenn es geknallt hat oder die Repressionen zu stark werden." Dann können sich die Jugendlichen wieder anderen Dingen zuwenden.
Umstrittene Rolle der Religion
Wie groß bei diesem Prozess die Rolle der Religion ist oder ob vor allem soziale Faktoren im Vordergrund stehen, ist wissenschaftlich außerordentlich umstritten. Abhängig ist das auch von der Region, aus der die Radikalisierten kommen und welcher Glaubensrichtung sie angehören. So gibt es Glaubensgruppen, in denen der Kampf und das Martyrium eine große Rolle spielt – und somit Gewalt schon implizit eher als Option in Betracht kommt. Zum Teil sind aber auch soziale Faktoren prägend. Wer etwa aus einem Bürgerkriegsland kommt, erfährt Gewalt zum Teil über Generationen als Alltag – das beeinflusst auch das Denken.
Welchen unterschiedlichen Stellenwert Religion und theologische Argumente bei einzelnen Kämpfergruppen haben können, lässt sich an islamischen Gruppen veranschaulichen, die besonders gut erforscht sind: Die Terrormiliz IS führte Akten über ihre Mitglieder und hat in Form von Fragebögen auch deren religiöse Kenntnisse abgefragt. Das Ergebnis: Viele Kämpfer haben kaum religiöses Wissen, sondern haben sich eher nach eigenem Gutdünken ihren eigenen Islam aus unterschiedlichen radikalen Versatzstücken zusammengesetzt. "Hier ist Religion eher ein Vehikel", sagt Kiefer. Anders sieht das etwa bei Menschen aus dem kriegsgebeutelten Tschetschenien aus: Hier sind über Generationen islamistische Narrative etabliert und untermauert worden. "Diese Radikalen sind theologisch gut ausgebildet und wissen, was sie wollen", so Kiefer. "Hier wird eine kohärente islamistische Theologie gepflegt."
Warum fällt aber gerade der Islam so stark durch Gewalt und Radikalisierung auf? In der politischen wie gesellschaftlichen Diskussion ist das ein heißes Eisen; von "das hat mit dem Islam nichts zu tun“ bis "das gehört zum Islam elementar dazu" ist alles dabei. Auch in der Forschung sind die Ansätze dazu sehr unterschiedlich.
Liegt es am Islam?
Als markig formulierender Islamkritiker hat sich der niederländische Soziologe Ruud Koopmans einen Namen gemacht – zuletzt mit seinem dieses Jahr erschienenen Buch "Das verfallene Haus des Islam". Seine These: "Nicht der Islam, sondern seine fundamentalistische Interpretation ist die Wurzel der Krise, in die die islamische Welt in den letzten fünfzig Jahren immer tiefer gesunken ist". Das Problem ist seiner Ansicht nach, dass die fundamentalistische Auslegung des Islam heute die vorherrschende Denkrichtung ist. Den Anfangspunkt dafür sieht er in der islamischen (schiitischen) Revolution im Iran, die eine Kettenreaktion der Fundamentalisierung in der islamischen Welt losgetreten habe – mit weitreichenden Folgen: Durch die religiöse Legitimierung der Herrscher fehle es an Demokratie, durch die Geringschätzung nicht-religiösen Wissens an Bildung und durch sehr traditionelle Familien- und Gesetzesstrukturen an Wirtschaftskraft. Zudem hält er fest: "Heute gibt es kaum Bürgerkriege, an denen keine Muslime beteiligt sind."
Das höhere Gewaltaufkommen in der islamischen Welt liege an dieser Fundamentalisierung: "Fundamentalismus ist problematisch, weil alle Studien, sowohl unter Christen als auch unter Muslimen, zeigen, dass er sehr stark mit Feindseligkeit gegenüber anderen Gruppen verbunden ist", so Koopmans. Diese "anderen Gruppen" können etwa andere muslimische Glaubensauslegungen, Christen, Nicht-Gläubige, Ehebrecher und Homosexuelle sein. "Die Unterstützung religiöser Gewalt ist unter Muslimen am größten und innerhalb der einzelnen Religionen unter den fundamentalistischen Gläubigen deutlich größer", fasst Koopmans das Ergebnis einer seiner zahlreichen Studien zusammen.
Koopmans ist auch in der Fachwelt umstritten. Denn je nach abgestecktem Zeitrahmen stellt sich das Gewaltpotenzial der Religionen sehr unterschiedlich dar: Betrachtet man wie Koopmans die Jahre ab 1979, ist der Islam mit Sicherheit die am stärksten mit Gewalt verbundene Religion. Allerdings gibt es etwa mit der "Army of God" beispielsweise auch eine christliche Terrororganisation in den USA, die Anschläge auf Abtreibungskliniken verübt. Zuletzt hat 2015 ein Mann beim Angriff auf eine Klinik drei Menschen getötet und neun verletzt. Auch im Judentum ist Terror ein Thema. So wurde etwa für den Brandanschlag auf das Kloster Tabgha 2015 ein jüdischer Extremist zu vier Jahren Haft verurteilt. Erweitert man das Zeittableau auf die Zeit von heute bis Christi Geburt, wäre das Verhältnis des Gewaltpotenzials der Religionen angesichts etwa der Kreuzzüge wohl deutlich ausgeglichener.
Die neue Rolle der Religion
Michael Kiefer kritisiert aber noch etwas anderes an Koopmans These: "Er beschäftigt sich zu wenig damit, wie Theologie in der Moderne und Postmoderne in einfältige Ideologie transformiert wird." Denn – und hier folgt Kiefer Roy – in der Moderne habe nicht wie manchmal behauptet eine Wiederentdeckung, sondern eine Transformation von Religion stattgefunden: In den vergangenen Jahrzehnten sind abseits aller religiösen Traditionen – und auch in bewusster Abgrenzung dazu – religiöse Strömungen entstanden, die sich durch eine sehr karge und schlichte, auf ein Gut-Böse-Schema reduzierte Theologie auszeichnen. Roy spricht von der "heiligen Einfalt". In einer Welt, die durch die Auflösung traditioneller Milieus, Familienbildern, Lebensläufen und Arbeitsbiografien gekennzeichnet ist, geben diese schlichten Ideologien den Gruppenmitgliedern Halt und Sicherheit. So inszeniert sich etwa der IS als Sekte innerhalb des Islams ganz bewusst gegen traditionelle Religionsformen und verbindet damit einen Exklusivitätsanspruch: "Der Islam deines Vaters ist der Islam, den die Kolonialherren genehmigt haben, der Islam derer, die buckeln und gehorchen. Unser Islam ist aber der Islam des Soldaten, des harten Mannes, des Widerstandskämpfers", zitiert Roy die Zusammenfassung des radikalen Weltbildes durch den Konvertiten David Vallat. Es geht hier also auch um das Phänomen der Abgrenzung einer Jugendbewegung.
Ähnliche Dynamiken lassen sich auch im Christentum feststellen: Im vor 30 Jahren noch urkatholischen Brasilien haben sich mittlerweile zahlreiche charismatische Freikirchen ausgebreitet, die durch einfache Antworten die Lösung komplexer Probleme versprechen. Dazu gehört im Sinne der Schwarz-Weiß-Logik immer die Abwertung der anderen. Denn um die entstandene Gruppe zu stabilisieren, muss sie sich kontinuierlich nach außen abgrenzen, sagt Kiefer. Das kann etwa bedeuten, dass muslimische Radikale alle anderen als Häretiker bezeichnen oder ihre christlichen Pendants regelmäßig und lautstark Stimmung beispielsweise gegen Homosexuelle machen. So werden die Mitglieder immer wieder darin bestärkt, auf der "richtigen Seite" zu stehen.
Das bringt Probleme mit sich: Diese Gruppen entwickeln eine große Intoleranz und oft ein Gewaltpotenzial nach innen, so Kiefer: "Da werden auch etwa die Freiheitsrechte von Familienangehörigen deutlich beschnitten – immer mit der Drohung, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden." Wie sehr eine solche Gruppe dann am Ende zu Gewalt greift, hängt nicht zuletzt auch von ihrer gesellschaftlichen Stellung ab, sagt Kiefer: "Evangelikale in den USA gehören zu den Eliten und regieren mit. Die brauchen keine Gewalt." Kleine Splittergruppen wie der IS haben diese Machtoption dagegen seit dem Verlust der von ihr eroberten Landfläche nicht.
Zeitalter der Radikalisierung
Hat Radikalisierung also theologische, soziale, gesellschaftliche oder politische Ursachen? Je nach Blickwinkel (und politischer Intention) lassen sich für viele Hypothesen Belege finden. Was bei der Betrachtung allerdings auch klar wird: Wenn Menschen sich auf einmal einem radikalen, exklusiven Weltbild öffnen, hat das oft viele Ursachen, die sich in einer Weise gegenseitig beeinflussen, die oft schwer zu durchschauen ist.
Dabei ist die Beschäftigung mit Radikalisierung zentral, weil sich das Phänomen in Zukunft noch ausbreiten könnte. Michael Kiefer hält es für gerechtfertigt, von einem Trend zu sprechen: "Es werden immer mehr Gemeinschaften mit einem einfachen Weltbild entstehen, dieser Prozess ist längst nicht abgeschlossen." Denn die Verunsicherung nimmt mit jeder Generation zu – und das weltweit. Schließlich gibt es auch in einer Religion mit einem friedlichen Image wie dem Buddhismus Selbstbehauptungsströmungen, die sich etwa in Myanmar in der Ablehnung der muslimischen Minderheit der Rohingya ausdrücken.
Was dagegen helfen kann: Kindern und Jugendlichen ein soziales Netz schaffen, das über die Familie hinausgeht, rät Kiefer. Eltern und Lehrer müssten sich mit anderen sozialen Akteuren zusammentun und den Jugendlichen gegenüber als Allianz mit transparenten Zielen auftreten. Zugleich müsse klar sein, dass ein Scheitern im Lebenslauf nicht nur vertretbar, sondern auch völlig normal ist. Die Kirchen ruft Kiefer auf, es den Radikalen nicht gleichzutun und ihre Botschaften zu simplifizieren, sondern ihre Botschaften mit Blick auf die Bedürfnisse der Menschen zu kommunizieren und ihre Mitarbeiter in dieser Hinsicht zu professionalisieren: "Eine vorgebliche Eindeutigkeit ist nicht das richtige Mittel, eine kontinuierliche Beziehung schon."