Vom Wehrmachtshauptmann unter Mordverdacht zum Münchner Weihbischof
Am Eingang des Abruzzendorfes Filetto di Camarda erinnert eine Informationstafel an den Münchner Weihbischof Matthias Defregger (1915-1995). Sie zeigt ihn auf zwei Fotos - im Bischofsgewand und in der Uniform eines Hauptmanns der Wehrmacht. Sein Name ist im Gedächtnis des italienischen Bergnestes mit einem Trauma verbunden.
La Strage, das Massaker, nennen sie es im Dorf. Auch wenn kaum noch Hinterbliebene dort wohnen. Der jährliche Gedenktag ist für die Gemeinde sehr wichtig, auch nach 76 Jahren. Am 7. Juni 1944 stellte Defreggers Bataillon in Filetto ein Maschinengewehr auf und mähte 17 Bewohner nieder. An den Hauptmann war der Befehl ergangen, einen Partisanenangriff mit der Liquidation von "Sühnegefangenen" zu vergelten. Genau 25 Jahre später machte der "Spiegel" aus der Geschichte einen Titel und sorgte damit für einen Skandal.
Auch die Filetteser erfuhren 1969 erstmals durch deutsche Reporter, was aus dem Mann geworden war, den sie als "schwarzen Kapitän" in Erinnerung hatten. Defregger sah sich Rücktrittsforderungen ausgesetzt, Staatsanwälte nahmen neue Ermittlungen auf. Italienische Kommunisten forderten seine Auslieferung. Und der Münchner Kardinal Julius Döpfner, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, geriet unter massiven Druck, auch weil er Rom nicht vor der 1968 erfolgten Weihe seines Generalvikars zum Bischof über den dunklen Fleck in dessen Vita informiert hatte.
Empörung unter prominenten Kulturschaffenden
An den erregten Debatten über den "Fall Defregger" beteiligten sich prominente Kulturschaffende. Der Schriftsteller Heinrich Böll empörte sich so sehr, dass er fortan keine Kirchensteuer mehr zahlte. Der italienische Filmregisseur Osvaldo Civirani drehte über das Blutbad ein Drama mit dem Titel "Der Tag, an dem Gott nicht da war". Der Staatsfunk der DDR verarbeitete die "Akte Defregger" zu einem Hörspiel.
Die Münchner Staatsanwaltschaft beendete ihre Untersuchung wegen Mordverdachts gegen den einstigen Hauptmann und einen weiteren Offizier im September 1970 "wegen erwiesener strafrechtlicher Unschuld". Laut dem Einstellungsbescheid konnten beide "den möglichen verbrecherischen Inhalt des Befehls" nicht erkennen und seine Ausführung auch nicht verhindern. Defregger habe sich sogar verweigert, bis ihm sein Kommandeur selbst mit der Erschießung gedroht habe. Eigenmächtig habe er dennoch den Befehl abgemildert. So seien Kinder und Greise am Leben gelassen worden. Zwei Jahre später klappte auch die Justiz in Italien die Aktendeckel zu.
Während des Verfahrens hatte Defregger stets darauf gepocht, ihm sei weder juristisch noch moralisch etwas vorzuwerfen. Er machte geltend, dass solche Repressionsmaßnahmen nach Partisanenattacken im Krieg auf allen Seiten üblich waren. Zugleich gab er an, dass die Ereignisse schwer auf ihm lasteten. Auf eigenen Wunsch ließ er sich in den Innendienst versetzen, seinen angebotenen Rücktritt als Weihbischof lehnte Döpfner ab. Als Ordensreferent nahm er aber fortan nur noch wenige öffentliche Termine wahr. "Er war nach der Geschichte ein gebrochener Mann", erinnert sich ein Weggefährte.
Die Diskussion über eine Beteiligung der Wehrmacht an NS-Verbrechen nahm erst nach dem Tod des Weihbischofs am 23. Juli 1995 neu an Fahrt auf. Ein angeblicher Befehlsnotstand gilt als nicht mehr haltbar. Exekutionsverweigerer wurden keineswegs selbst "an die Wand" gestellt, nicht einmal bei der SS. "Manchmal erfolgte eine Versetzung, mehr nicht", so der Freiburger Militärhistoriker Wolfram Wette. Defregger wurde ein halbes Jahr nach dem Erschießungskommando zum Major befördert. Für den Historiker Carlo Gentile, der heute an der Universität Köln lehrt und ein Standardwerk über die Kriegsverbrechen der Wehrmacht in Italien verfasst hat, steht fest: Defregger war zumindest ein Mittäter.
Keine Zeichen der Reue?
Die in den USA lehrende evangelische Theologin Katharina von Kellenbach hat sich intensiv damit beschäftigt, wie NS-Täter mit Schuld umgingen. Sie hat bei Defregger eine "Unfähigkeit" ausgemacht, die Opfer der damaligen Vergeltungsaktion anzuerkennen. Nie habe er mit Überlebenden gesprochen. Diese Scheu, schreibt Kellenbach in ihrem 2013 erschienenen Buch "The Mark of Cain" (deutsch: Kainsmal) sei umso bemerkenswerter, als dass diese "Katholiken waren und nicht Juden oder 'gottlose Bolschewisten'".
In einem Schreiben unter der Überschrift "Solidarität mit den Opfern" hatte Defregger zwar um "Verständnis und Vergebung" dafür gebeten, dass er den Filettesern nicht besser habe helfen können. Den Brief sandte er aber nicht an die Adressaten, sondern nur an seine priesterlichen Mitbrüder in München. Von den Abruzzen hielt er sich fern.
Weitgehend unerwidert blieb auch das Werben des Dorfpfarrers in Filetto bei seiner Gemeinde für eine Aussöhnung mit Defregger. 1970 reiste er mit einer Delegation nach München, um den Weihbischof zu treffen. Der Ortschronist von Filetto, Giovanni Altobelli, hat Fotos von der Zusammenkunft. "Aber von irgendeinem Zeichen der Reue von Matthias Defregger weiß ich nichts", sagt er. Als der Pfarrer von Filetto vier Wochen nach dem Tod des Weihbischofs eine Gedenkmesse feierte, fanden nur vier der 270 Dorfbewohner den Weg in die Kirche.