Kampf um die Deutung: Wie dachte Rom über Pater Kentenich?
Um die Rückkehr von Pater Josef Kentenich aus den USA im Jahr 1965 ranken sich schon seit langem Legenden. Ab 1952 wirkte Kentenich in Milwaukee als Seelsorger für Deutsche; auf Anweisung Roms sollte sich der Schönstatt-Gründer von seinem Werk trennen, seine Bewegung spricht daher von "Exil" und "Verbannung". Ein anonymes Telegramm sei es gewesen, das den Pater nach Rom ins Generalat seines ehemaligen Ordens, den Pallottinern, gerufen hatte. "Fehlinterpretiert" sei dieses Telegramm gewesen, heißt es aus der Glaubenskongregation. Dennoch: Mit der Rückkehr Kentenichs übernahm er Stück für Stück wieder eine zentrale Rolle in seiner Bewegung. Wurde er rehabilitiert – oder wollten die Bischöfe schlicht nicht auf die Schönstatt-Patres für ihre Seelsorge verzichten und scheuten den Konflikt?
Das Ende des "Exils" und die Frage einer Rehabilitierung von den Vorwürfen, die eine apostolische Visitation erhoben hatte, ist jetzt auch ein zentraler Punkt bei der Klärung der Missbrauchsvorwürfe, die die Historikerin Alexandra von Teuffenbach in den vatikanischen Archiven aus der Zeit von Papst Pius XII. gefunden hat: Sind die dort geschilderten Taten – geistlicher Missbrauch und ein Fall sexualisierter Gewalt gegen Schönstatt-Schwestern – belegt? Wurde Kentenich von den Anschuldigungen freigesprochen?
Es gab nie ein Rehabilitierungsdekret
Was tatsächlich passiert ist, wird derzeit mit Dokumentenfunden und Stellungnahmen von Beteiligten rekonstruiert. Kentenich sei rehabilitiert worden, hieß es über lange Jahre in der Schönstatt-nahen Geschichtsschreibung. Teuffenbach forderte dazu einen Beleg ein. Kurz darauf: Der Postulator in Kentenichs Seligsprechungsverfahren räumte ein, dass es tatsächlich kein Rehabilitierungsdekret gab – das sei nicht üblich gewesen, eine Audienz bei Papst Paul VI. und die Unbedenklichkeitserklärung bei der Eröffnung des Seligsprechungsverfahrens seien doch Beleg genug.
Die Wendung brachte Anfang August ein Aktenfund von Teuffenbachs: In den Dokumenten der Pallottiner hatte die Historikerin einen Brief aus der Glaubenskongregation gefunden, 1982 unterzeichnet von dem damaligen Präfekten, Kardinal Joseph Ratzinger. Darin teilt er dem Generalrektor der Pallottiner, Pater Ludwig Münz, mit, dass "keine der früheren Entscheidungen des Hl. Offiziums, die die Lehre, Tätigkeit und Person P. Kentenichs betreffen, annulliert" worden seien. Ist das nun der endgültige Beweis, dass es tatsächlich keine Rehabilitierung gab?
Aus Schönstatt-Kreisen gibt man sich damit nicht zufrieden. Immer wieder werden wertschätzende Worte Kardinal Ratzingers über die Schönstatt-Bewegung zitiert, etwa anlässlich des 100. Geburtstags Kentenichs 1985. Die verfügbaren Äußerungen tragen aber nicht zur Klärung bei: Die Wertschätzung Schönstatts steht neben dem schroffen Urteil von 1982, dass Kentenich weiterhin nicht rehabilitiert sei. Das fehlende Rehabilitierungsdekret steht neben dem "Nihil obstat", das für die Aufnahme des Seligsprechungsverfahrens 1975 ausgesprochen wurde.
Kardinal Errázuriz verteidigt Kentenich mit seiner Sicht der Dinge
Seit einigen Tagen kursiert ein von Kardinal Francisco Javier Errázuriz Ossa unterzeichnetes Schreiben unter Schönstatt-Mitgliedern. Errázuriz, der emeritierte Erzbischof von Santiago de Chile, ist Schönstattpater und war in den 80er Jahren Vorsitzender des Generalpräsidiums der Bewegung. Offiziell hat er seine Position nicht veröffentlicht; aus Kreisen der Bewegung wird aber seine Authentizität bestätigt. "Was ich Ihnen schreibe", so Errázuriz, "können Sie mit Diskretion weitergeben", damit die Wahrheit über den Ratzinger-Brief "herrschen kann". Zu dem kleinen Dossier gehört auch ein Briefwechsel von Errázuriz mit Ratzinger; die Darstellung der Abläufe bezieht sich also auf die Sicht der Dinge, die der Schönstätter Errázuriz hat.
Die Echtheit des von Teuffenbach gefundenen Schreibens aus der Glaubenskongregation steht außer Frage; es ist in den "Acta Societatis Apostolatus Catholici", der offiziellen Dokumentensammlung der Pallottiner, veröffentlicht. Patres aus Kentenichs ehemaliger Gemeinschaft bestätigen auch, dass der Inhalt des Papiers in den 80ern im Orden allgemein bekannt war. Dennoch sei das Schreiben nicht der Weisheit letzter Schluss in der Causa Kentenich, so Errázuriz. Er habe als oberster Schönstätter 1982 sofort das Gespräch mit Ratzinger gesucht und ihm mitgeteilt, dass der Brief Schönstatt einen großen Schaden zugefügt hätte. Der Präfekt soll sich von dieser Kritik überrascht gezeigt haben. Das Schreiben sei auf Wunsch des Generalrektors verfasst worden, weil es Gerüchte über eine angebliche schlechte Behandlung Kentenichs in den USA durch die Pallottiner gegeben habe. Darunter hätten die Berufungen gelitten. Der Präfekt habe daher seine Kongregation beauftragt, einen Brief zu diesem Thema zu verfassen, diesen habe er unterschrieben – doch das bekannt gewordene Schreiben geht auf diese Frage gar nicht ein.
Konnte sich Kardinal Ratzinger nicht gegen seine Kongregation durchsetzen?
In der Audienz soll Ratzinger den von ihm unterzeichneten Brief nicht präsent gehabt haben, weshalb er Errázuriz gefragt habe, ob er ihn dabei hätte. Nach der Lektüre seines Briefs antwortete er: "Es ist nicht wirklich klar, was meine Absicht ist. Ich werde ihn ändern müssen." Errázuriz forderte daher einen komplett neuen Brief ein, der Präfekt wolle das "nach den Ferien tun". Diese Absicht wird er aber nie umsetzen: "Es geschah nicht, weil der erzbischöfliche Sekretär der Kongregation ihn daran hinderte und ihm sagte, die Glaubenskongregation widerspreche sich nie selbst", erinnert sich Errázuriz: Keine Rehabilitierung für Kentenich, weil die Kongregation sich nicht korrigiert, auch nicht, wenn der Präfekt – angeblich – dafür ist.
Ein Schreiben des Vorsitzenden des Generalpräsidiums von 1983 bestätigt noch einmal, dass es keine Rehabilitierungsdekrete gab, und dass das damals von der Bewegung durchaus als Problem gesehen wurde, zumal Kardinal Alfredo Ottaviani, der Vorvorgänger Ratzingers, sich schon zehn Jahre zuvor geäußert haben soll, dass das Heilige Offizium sich in seiner Bewertung Kentenichs geirrt habe.
Trennung von Werk und Gründer – aber kein Urteil
Darauf erhält Errázuriz dann auch eine Replik. Ratzinger antwortet jedoch ausweichend. Anstatt wie gewünscht klar eine Rehabilitierung festzustellen, spricht er allgemein über Schönstatt. So heißt es in dem auf den 15. November 1983 datierten Brief: "Zu diesen Anfragen möchte die Glaubenskongregation klarstellen, daß die Maßnahmen, die seinerzeit vom Sanctum Officium gegenüber dem Gründer des Schönstattwerks ergriffen wurden, einzig und allein dem Ziel dienten, das religiöse Ideengut P. Kentenichs zu schützen, es dem geistlichen Wohl der Kirche zuzuführen sowie das Werk als ganzes wie auch die einzelnen Mitglieder vor möglichen Gefahren zu bewahren." Ratzinger betont Gottes Gnade und Segen, die in der Entstehung der Schönstatt-Bewegung gewirkt hätten, und "nicht einfach nur […] menschliche Planung und Organisation". So sei auch das "Nihil obstat" für die Aufnahme des Seligsprechungsprozesses 1975 zu erklären. Die Trennung von Werk und Gründer: eine vorsichtige, diplomatische Distanzierung von Kentenich?
Mit keinem Wort geht der Präfekt auf die eigentliche Frage ein: Wurde Kentenich rehabilitiert? Hält die Glaubenskongregation die Vorwürfe aus den Visitationsberichten für zutreffend? Die Kongregation wendet sich nur – "mit Nachdruck" – dagegen, das Vorgehen ihrer Vorgängerbehörde "einseitig im jeweiligen Interesse" auszulegen. Klar ist auch nach diesem Brief nach wie vor nicht, was die offizielle Position zu Kentenich und seiner möglichen Rehabilitierung ist. Es gibt viel zu tun für die neue Historikerkommission, die nun noch einmal das Leben Kentenichs untersucht.