Was Bischof Wilmer in seinem Leben trägt
Schwarzer Tee ist für Heiner Wilmer seit seiner Kindheit ständiger Begleiter. Auf dem elterlichen Bauernhof gab es Tee am Nachmittag um halb vier bei der Feldarbeit und zum Abendessen noch einmal. Eine Teestunde jedoch ist dem gebürtigen Emsländer, der seit 2018 Bischof von Hildesheim ist, ganz besonders im Gedächtnis geblieben. Als Zwölfjähriger begleitete er seinen Vater zu einem Besuch bei einem Bauern im benachbarten Ostfriesland. Der Tee dort war anders. Die Tassen kleiner und dünner als zuhause, die Kluntjes genannten Kandisstücke größer und zudem wurde das Heißgetränk von einer fetten Sahnehaube gekrönt. "Ich hatte noch nie so leckeren Tee getrunken. Und ich fühlte mich wie im Himmel", schreibt Wilmer in seinem am Montag erscheinenden Buch "Trägt. Die Kunst, Hoffnung und Liebe zu glauben".
Die 160-seitige Schrift ist denen gewidmet, "die sich vor Viren und anderem Übel ängstigen" und beschäftigt sich mitten in der Corona-Krise mit der Frage, wer und was den 59-jährigen Autor in seinem Leben trägt – also, wer und was ihm im Leben wichtig ist. Mit zahlreichen persönlichen Anekdoten gibt der Bischof, der sich einen Namen als Reformer in der katholischen Kirche gemacht hat, Einblicke in seinen Alltag und in seine Gedanken.
Eine davon ist die Geschichte von Tee und Kluntjes. Sie prägt bis heute seine Gedanken und Gefühle, wie Wilmer erzählt. Im damals für ihn unbekannten Ostfriesland wurde ihm klar: "Du musst in ein fremdes Land, um so intensiv zu erleben wie nie zuvor." Seither sind Tee und Kluntjes für ihn Ausdruck der Hoffnung "auf ein ganz fremdes und anderes Land und eine ganz andere Zeit". Das Nationalgetränk der Ostfriesen steht für Wilmer für die Hoffnung auf Ewigkeit. Die, so beschreibt er, hat für ihn existenzielle Bedeutung: "Hoffnung trägt, weil sie Kraft gibt, aussichtslose Situationen durchzustehen."
Der Ordensmann, der international viel rumgekommen ist, nimmt den Leser mit an verschiedene Stationen seines Lebens. In Paris, wo er als junger Mann Romanistik studierte, diskutiert er bei einem erneuten Besuch der Stadt mit alten Freunden über Gott und betrachtet die moderne Architektur der Kirche Notre-Dame d'Esperance. In Rom, wo Wilmer ebenfalls eine Zeit lang studierte und später als Generaloberer seines Ordens der Herz-Jesu-Priester tätig war, arbeitet die selbstbewusste Reinigungskraft Palmira, die bei ihrer Arbeit im Ordenshaus stets von der Liebe sang. Und in Hildesheim wird der Leser Zeuge einer Begegnung mit einer Frau, die fasziniert dem Glockengeläut des Domes lauscht und daraus ihre Kraft schöpft. Wilmer inspirieren diese Alltagserlebnisse zu Gedanken über Hoffnung und Liebe sowie über Vater, Sohn und Heiliger Geist, die drei Gestalten des biblischen Gottes.
Hoffnung gibt es überall zu finden
"Für die Egoisten dieser Welt ist Hoffnung gefährlich", schreibt der Theologe, "weil sie nicht aufhört, ein Lied davon zu singen, wie Gerechtigkeit geschieht." In seinen Augen lebt die Hoffnung in Krankenhäusern, in Arbeitsagenturen, bei Alleinerziehenden und pflegenden Angehörigen, in Beratungsstellen und auf Demonstrationen. Christlicher Ausdruck von Hoffnung und Liebe ist für den Bischof das Gottvertrauen – "das Gegenteil einer Vollkasko-Mentalität". Gott vertrauen bedeute, "zu wissen, dass Risiken das Leben prägen und man keine existenzielle Daseins-Versicherung abschließen kann".
Nach "Gott ist nicht nett" (2013) und "Hunger nach Freiheit" (2018) hat Wilmer erneut ein lebensnahes Buch verfasst, das vor allem Mut machen will und den Leser einlädt, das Christentum als Quelle von Hoffnung und Liebe zu entdecken. Die Anekdoten holen die Gedanken auch nach teils ausschweifenden Ausflügen in philosophisch-theologische Gefilde wieder zurück auf den Boden der Tatsachen. Heiner Wilmer präsentiert sich nicht als Bischof, sondern vor allem als Seelsorger, Philosoph und Christ, der darauf hofft, dass er einmal mit Gott Tee trinken kann und er Kluntjes für ihn hat. Denn, so glaubt Wilmer: "Der letzte Schluck ist süß."