Erster Tonwechsel nach sieben Jahren

John-Cage-Aufführung in Halberstadt: Ein Orgelkonzert für die Ewigkeit

Veröffentlicht am 05.09.2020 um 12:00 Uhr – Lesedauer: 

Halberstadt ‐ Seit 2001 wird in der Halberstädter Burchardi-Kirche ohne Unterbrechung das Orgelstück "Organ2/ASLSP" des US-Komponisten John Cage aufgeführt – und das noch bis zum Jahr 2640. Heute findet bei der außergewöhnlichen Aufführung erstmals seit sieben Jahren ein Tonwechsel statt.

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Wie die Welt im Jahr 2640 aussehen wird, kann heute niemand mit Gewissheit vorhersagen. Wird die Erde in dieser fernen Zukunft überhaupt noch von Menschen bewohnt sein? Und wenn ja, wie werden diese dann leben? All das ist völlig unklar. Lediglich für die Burchardi-Kirche im sachsen-anhaltinischen Halberstadt gibt es für 2640 einen konkreten Plan. Dann nämlich soll in der turmlosen Basilika eines ehemaligen Zisterzienserinnenklosters ein musikalisches Großprojekt von wahrhaft historischen Ausmaßen zu Ende gehen: die seit dem 5. September 2001 ohne Unterbrechung laufende Aufführung des Orgelwerks "Organ2/ASLSP" des US-amerikanischen Komponisten John Cage (1912-1992).

Die Abkürzung ASLSP steht für "As SLow aS Possible" und ist als Anweisung des Komponisten zu verstehen, die nur achtseitige Partitur des Stücks "so langsam wie möglich" zu spielen. Wie unterschiedlich diese eher ungenaue Vorgabe indes interpretiert werden kann sieht man, wenn man die auf insgesamt 639 Jahre angelegte Halberstädter Aufführung mit der Uraufführung des Werks vergleicht, bei der der Organist Gerd Zacher das Orgelstück 1989 in Metz in gerade einmal 29 Minuten spielte.

Wie ist die Vorgabe "so langsam wie möglich" genau zu verstehen?

Doch von Anfang an – denn begonnen hat die Geschichte bereits 1985, als Cage das Werk mit Hilfe eines Computerprogramms komponierte. Damals hieß das in acht gleich lange Teile unterteilte Stück zunächst nur "ASLSP", da es ursprünglich für Klavier verfasst wurde. Erst zwei Jahre später bearbeitete es Cage auf Anregung Zachers für die Orgel.

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1997 kam dann bei einem Orgelsymposium im baden-württembergischen Trossingen die Frage auf, wie die Vorgabe "so langsam wie möglich" genau zu verstehen und das Stück aufzuführen sei. Nach längerer Diskussion waren sich die Teilnehmer einig, dass man "Organ2/ASLSP" theoretisch unendlich denken und spielen könne. "Ursprünglich war das Stück für Klavier geschrieben, und auf einem Klavier kann man nicht langsamer spielen, als bis die Saiten verklingen. Dann muss man Pausen machen", erläuterte der Kuratoriumsvorsitzende der John-Cage-Orgelstiftung, Rainer Neugebauer, Anfang dieses Jahres in einem Interview. Bei einer Orgel sei dies anders. Da sie ein Aerophon und damit eine Art Blasinstrument sei, könne das Stück sehr lange gespielt werden – "wenn der Motor kontinuierlich läuft", so Neugebauer.

Damit war die Idee für die Halberstädter Mammutaufführung geboren. Doch warum entschieden sich die Initiatoren ausgerechnet für die Kreisstadt im Harz? Und warum für die wahnwitzig erscheinende Aufführungsdauer von 639 Jahren? Auf Halberstadt fiel die Wahl, weil im dortigen Dom 1361 eine der ältesten dokumentierten Orgeln der Neuzeit gebaut worden war; aus Sicht der Organisatoren stand die Wiege der modernen Musik damit in Halberstadt. Und da der Bau der historischen Orgel im Jahr 2000 – dem ursprünglich geplanten Beginn der Aufführung – genau 639 Jahre her war, plante man für das Cage-Stück ebenfalls 639 Jahre ein.

Erst nach knapp eineinhalb Jahren erklangen die ersten Töne

Da der Halberstädter Dom jedoch bis heute als Kirche genutzt wird, musste für die geplante Aufführung ein anderer Ort her – der mit der damals ungenutzten Burchardi-Kirche auch bald gefunden wurde. Das Gotteshaus aus dem 11. Jahrhundert hatte knapp 800 Jahre als Klosterkirche gedient, ehe es nach der Säkularisation im Jahr 1810 ein Dasein als Scheune, Lagerschuppen, Schnapsbrennerei und Schweinestall fristete. Diese Form der Nutzung endete erst Ende der 1970er Jahre, seitdem stand das Gebäude leer. Für die Aufführung von "Organ2/ASLSP" wurde die Kirche Anfang der 2000er Jahre gereinigt und mit einem neuen Dach und neuen Fenstern ausgestattet.

Herzstück der Cage-Projekts ist – natürlich – die Orgel. Sie wurde von der Kevelaerer Orgelbaufirma Romanus F. Seifert & Sohn gebaut und wird mit den Jahren und den hinzukommenden Tönen weiter wachsen. In den ersten eineinhalb Jahren der Aufführung  war das Instrument, das im rechten Querhaus steht, allerdings nicht zu hören – doch das lag nicht etwa an einem technischen Defekt, sondern daran, dass das Cage-Stück mit einer Pause beginnt. Erst am 5. Februar 2003 erklangen die ersten Töne (gis', h', gis''), und seitdem ist das Instrument nicht mehr verstummt. Selbst wenn man nachts an der Kirche vorbeigehen und an der Tür lauschen würde, so Rainer Neugebauer, würde man den Dauerton im Inneren hören. Ermöglicht wird dies durch kleine Sandsäcke, die die hölzernen Tasten der Orgel niederdrücken, damit nicht rund um die Uhr ein Mensch bei dem Instrument sitzen muss.

Bild: ©picture-alliance/ dpa | Jens Wolf

Ort der Aufführung von "Organ2/ASLSP" ist die im 11. Jahrhundert errichtete Burchardi-Kirche in Halberstadt.

Nach 2003 fand zunächst fast jedes Jahr ein Tonwechsel statt, doch seit dem 5. Oktober 2013 klingt es in der Kirche unverändert. Seit diesem Tag nämlich spielt die Orgel den längsten Ton des ersten, auf 71 Jahre angelegten Teils von "Organ2/ASLSP". Doch diese Phase geht nun zu Ende. An diesem Samstag findet nach fast sieben Jahren der nächste Tonwechsel statt – dann kommen zu den fünf schon erklingenden Pfeifen c'(16'), des'(16'), dis', ais' und e'' noch die zwei Pfeifen gis und e' hinzu. Den Tonwechsel, den diesmal aufgrund der Corona-Pandemie nur 200 Musikfreunde direkt in der Kirche verfolgen können, vollziehen die Sopranistin Johanna Vargas und der Komponist Julian Lembke.

Rückläufiges Spendenaufkommen als Gefahr für das Projekt

Unklar ist indes, wie es mit dem Mammutprojekt weitergeht. Laut einem Medienbericht sieht die John-Cage-Orgelstiftung der langfristigen finanziellen Absicherung des Projekts mit Sorge entgegen. Zwar seien in den vergangenen 20 Jahren fast eine Million Euro für das Projekt eingeworben worden. Inzwischen aber sei das Spendenaufkommen rückläufig.

Keine Sorgen machen sich die Verantwortlichen allerdings um die Orgel in der Burchardi-Kirche. Das Instrument sei aus Eichenholz gebaut und ziemlich solide. "Wir müssen ab und zu mal etwas warten und mal einen Motor austauschen – das schon. Aber im Prinzip gehen wir davon aus, dass das Material das doch ziemlich lange aushält", betonte Rainer Neugebauer. Und wenn es in den kommenden Jahrhunderten doch mal einen technischen Defekt und damit eine Unterbrechung der Aufführung geben sollte? Dann gibt es laut Neugebauer drei Möglichkeiten: "Man kann sagen, das war's und hört ganz auf. Oder man sagt, das ist nicht so schlimm und macht weiter. Oder aber wir kommen auf die Idee und sagen: Ach, fangen wir nochmal von vorne an. Da haben wir schon ein bisschen Übung und können es noch ein bisschen länger machen."

Von Steffen Zimmermann