Helmut Keymer über die neue Fachstelle "PIA" im Bistum Aachen

Interventionsbeauftragter: Wollen an der Seite der Betroffenen stehen

Veröffentlicht am 09.10.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Aachen ‐ Im Bistum Aachen werden bundesweit einmalig Missbrauchs-Prävention, Intervention und Ansprechpersonen in einer Fachstelle gebündelt. Welche Ziele sie hat und vor welchen Herausforderungen die Fachstelle in Zukunft steht, erklärt Interventionsbeauftragter Helmut Keymer im katholisch.de-Interview.

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Bundesweit einmalig ist die Fachstelle "PIA" im Bistum Aachen, die die Maßnahmen gegen sexuelle Gewalt, Prävention, Intervention und die Ansprechpersonen, unter einem Dach bündelt. Seit April ist Helmut Keymer als Interventionsbeauftragter der Diözese im Amt. Er erklärt im Interview, wie die neue Fachstelle entstanden ist, welche Ziele sie hat und vor welchen Herausforderungen das Bistum diesbezüglich steht.

Frage: Herr Keymer, seit dem 1. April sind Sie Interventionsbeauftragter im Bistum Aachen. Was ist Ihre Aufgabe?

Keymer: Im Mittelpunkt meiner Aufgabe steht der Schutz und die Hilfe für Betroffene und die Pflicht der Täter, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Als Interventionsbeauftragter bin ich der Fallmanager für aktuelle Fälle sexualisierter Gewalt. Ich koordiniere alle Maßnahmen auf die Betroffenen, die Beschuldigten und das irritierte System, etwa betroffene Einrichtungen oder Gemeinden, hin. Grundlage für meine Arbeit ist die Ordnung zum Umgang mit sexuellem Missbrauch, die im Januar 2020 im Bistum Aachen in Kraft gesetzt wurde. Ich arbeite eng mit dem Bischöflichen Beraterstab, den Fachabteilungen im Bischöflichen Generalvikariat, externen Fachstellen und Ämtern zusammen.

Frage: die neue Fachstelle "PIA" ist bundesweit einmalig. Aus welchen Entwicklungen ist sie entstanden?

Keymer: Seit 2011 ist im Bistum Aachen die Präventionsordnung für alle Diözesen Deutschlands in Kraft. Seitdem sind im Bistum mehr als 50.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geschult worden, um für das Thema sexuelle Gewalt auf alle Ebenen zu sensibilisieren. Die Präventionsarbeit hat den Blick in Richtung Zukunft. Sie will verhindern und vorbeugen. Aus den Erfahrungen der Präventionsarbeit der vergangenen zehn Jahre ist meine Stelle als Interventionsbeauftragter hervorgegangen. Insgesamt ist dieses Amt recht neu. Mit Einrichtung der Fachstelle will das Bistums Aachen noch wirksamer Missbrauch und sexualisierte Gewalt verhindern, Transparenz schaffen, die Kultur der Achtsamkeit noch stärker betonen und nachhaltige Aufarbeitung sexualisierter Gewalt leisten – diese Bündelung in einer Fachstelle ist einmalig.

Frage: Wie wird die Arbeit von "PIA" folglich aussehen und was ist das Ziel der Fachstelle?

Keymer: Wir wollen eng an der Seite der Betroffenen stehen und ihnen schnell und unbürokratisch helfen. Die Fachstelle PIA ist für Betroffene, Angehörige, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine kompetente Anlaufstelle. Das Ziel ist vor allem Vernetzung, dass wir voneinander lernen und koordiniert vorgehen. Unter dem Dach der Fachstelle werden die Erfahrungen und Perspektiven der unterschiedlichen Aufgabenbereiche – Prävention, Intervention, Ansprechpersonen – erstmals gebündelt. Wir sind in regelmäßigem Austausch, um immer wieder neu voneinander zu lernen. Es geht sowohl um eine Veränderung von Haltungen und Einstellungen zum Thema Gewalt als auch um strukturelle Veränderungen. Hier wird sich zeigen wie mit Machtstrukturen, unterschiedlichen Interessen und Hierarchie transparenter und partizipativer umgegangen wird. PIA ist nicht nur für die Gemeinden und die kirchliche Verwaltung zuständig, sondern für alle kirchlichen Rechtsträger.

Bild: ©Bistum Aachen

Helmut Keymer ist seit dem 1. April sind Sie Interventionsbeauftragter im Bistum Aachen.

Frage: Hätten Sie ein Beispiel, wie konkret gehandelt wird?

Keymer: Gibt es zum Beispiel einen konkreten Verdacht auf sexualisierte Gewalt in einem Kindergarten, Heim oder in einer Gemeinde, gibt es eine wichtige Hilfe: das Institutionelle Schutzkonzept. Darin sind auch Handlungsleitfäden definiert: Wer muss was mit wem klären, besprechen und umsetzen. Vor Ort gibt es eine Präventionsfachkraft, die das konkrete Schutzkonzept und die notwendigen Schritte und Schnittstellen kennt. Als Interventionsbeauftragter arbeite ich im aktuellen Fall eng mit der Präventionsfachkraft zusammen. Die Präventionsfachkraft kooperiert dann auch mit der Präventionsbeauftragten, Almuth Grüner, mit der ich auch darüber reden kann, was man noch verbessern könnte oder was gut lief. So können wir voneinander lernen.

Frage: In welchem Zusammenhang stehe da die dritten im Bunde, die Ansprechpersonen?

Keymer: Die Ansprechpersonen stehen immer an der Seite der Betroffenen. Sie haben zwar einen bischöflichen Auftrag, aber sie sind unabhängige externe Berater. Ihr Auftrag ist es, die Betroffenen bei allen Verfahren und Schritten zu unterstützen. Für die Intervention und Prävention sind sie also wichtige Mitspielerinnen und Mitspieler, weil sie die Betroffenen im Blick haben – und wir nehmen diese Perspektive ernst. Bei einem konkreten Fall sollen alle drei Stellen miteingebunden werden – wenn es nötig ist. Da muss man von Fall zu Fall schauen. Nehmen wir als Beispiel einen Erzieher im Kindergarten, der nicht korrekt mit Kindern umgegangen ist. Die Ansprechperson steht an der Seite der betroffenen Kinder beziehungsweise der Eltern und erklärt ihnen, was nun auf sie zukommen wird und fragt, welchen Beratungs- und Unterstützungsbedarf die Betroffenen haben. Sie klärt auch, welche Rolle das Jugendamt oder die Staatsanwaltschaft spielt.

Frage: Wodurch unterscheidet sich dieses Modell der Fachstelle "PIA" von anderen Bistümern?

Keymer: Neu ist, dass die Kooperation nun strukturell abgesichert ist. Mit den Kolleginnen und Kollegen aus den NRW-Bistümern gibt es einen guten Erfahrungsaustausch und gegenseitige Unterstützung. Allerdings habe ich noch keinen vertieften Einblick in die Arbeit der anderen Bistümer, um einen Vergleich ziehen zu können.

Frage: Wie sind die ersten Erfahrungen der Zusammenarbeit?

Keymer: Wir sind in Arbeit und haben alle 14 Tage feste Konferenzen. Zusätzlich wollen wir gemeinsame Räume schaffen, damit alle drei Stellen auf einer Etage sind, damit auch die Wege kurz sind und wir schnell miteinander reagieren können. Schritt für Schritt geht es nun weiter. Dadurch dass es die Präventionsarbeit in den Bistümern schon lange gibt, haben sie viel Erfahrung – ebenso wie die Ansprechpersonen. Deshalb gibt es jetzt an die neue Stelle des Interventionsbeauftragten Erwartungen. Diese und auch die Arbeit der Fachstelle PIA entwickeln wir kontinuierlich weiter.

Frage: Blicken wir in die Zukunft: Vor welchen Herausforderungen stehen die Fachstelle und auch Sie als Interventionsbeauftragter im Bistum Aachen?

Keymer: Ganz konkret hat das Bistum Aachen nach Veröffentlichung der MHG-Studie eine Anwaltskanzlei mit einer externen Untersuchung beauftragt, um Transparenz schaffen und Verantwortlichkeiten klar zu benennen. Die Kanzlei arbeitet vollständig unabhängig, auch Bischof und Generalvikar erfahren das Ergebnis zeitgleich mit der Öffentlichkeit auf einer Pressekonferenz. Wir rechnen damit, dass dieses Gutachten einen Impuls setzen wird: Bei alten Fällen melden sich noch einmal Betroffene und die betroffenen Systeme. Und vielleicht fühlen sich auch noch unbekannte Betroffene dadurch ermutigt, sich zu melden. Die Fachstelle PIA wird an der Seite der Betroffenen stehen, aber sie wird auch dafür Sorge tragen, Strukturen weiterzuentwickeln und dass nie wieder der Schutz der Organisation vor den Schutz der Betroffenen gestellt wird.

Von Melanie Ploch