Vino Rosso aus der Lagune: Venedigs Franziskaner machen feine Weine
Jeden Herbst, wenn die kalte Bora die Blätter über die niedrigen Häuser im Stadtviertel Castello weht, legt meine Freundin Adriana die paar hundert Meter von der Salizada San Francesco bis zum Kloster San Francesco della Vigna zurück. Sie geht an kleinen Läden für Kurzwaren, Brot und Wein vorbei und klingelt am Hintereingang. Im Kloster der Franziskaner-Brüder leiht sich meine Freundin jedes Jahr die Leiter aus, um ihr Hausdach von den herbeigewehten Blättern zu befreien. In Venedigs östlichem Stadtviertel Castello gibt es viele niedrige Häuser, in Sackgassen und sich verzweigenden calli, in denen früher die Arsenalotti, die Bootsbauer des nahen Arsenals, lebten. Fröhlich kommt der Briefträger über die Brücke, ein Student aus Ghana verlässt das Kloster, Bruder Rino winkt beiden über den campo zu: Alltagsszenen, wie sie im sestiere Castello, dem alten Stadtteil Venedigs, häufig zu erleben sind.
In der hellen Eingangshalle des Klosters San Francesco della Vigna riecht es nach Bienenwachs und der salzigen Luft der Lagune. Ein Kloster mitten in Venedig, mit eigenen Weinreben, und überhaupt, was bedeuten die beiden Gasometer draußen? Pater Rino Sgarbossa macht eine ausladende Handbewegung, das ist eine andere Geschichte, oder besser gesagt zwei. Aber kommen Sie doch erst mal herein.
Im auf Hochglanz geputzten Empfangsraum kommt "Guardiano" Stefano Cavalli, der Vorsteher oder wörtlich Wächter, dazu. Beide Patres haben Theologie studiert und promoviert. Pater Stefano hat früher in Jerusalem gelebt, heute unterrichtet er im hauseigenen Kolleg "Istituto di Scienze Ecumeniche San Bernardo". Fünf Ordensmänner leben heute noch im Kloster, dazu kommen Studenten aus aller Welt, die hier ökumenische Theologie studieren.
Weinreben, die bis zur Lagune wachsen
Padre Rino begleitet in den Garten hinaus, wo uns ein sanfter Golden Retriever erwartet. "Das ist Decebelius, für Freunde Dece", stellt ihn Pater Rino augenzwinkernd vor. "Wir haben ihn von einem befreundeten Kloster übernommen, jede Nacht sucht er sich eine andere Zelle aus." Wir gehen unter Säulengängen, an Zypressen, Palmen und einem Gemüsegarten vorbei. Hinter dem Garten erstreckt sich eine weite Fläche mit Weinreben, die bis zur Lagune reicht.
Im Mittelalter war es üblich, dass Klöster nahezu alles für ihren täglichen Bedarf selbst anbauten, dazu gehörte auch Wein. Der Weingarten lag lange brach, bis zufällig ein befreundeter Önologe aus dem Valpolicella-Tal darauf aufmerksam wurde. Nach einer Bodenprobe riet er zu den Traubensorten Refosco aus dem Friaul und Teroldego aus dem Trentino, die trotz sommerlicher Trockenheit und der salzigen Luft der Lagune hier gut gedeihen. So begann man 2014 mit der Wein-Produktion und stellte im ersten Jahr neunhundert Flaschen her. Als Name wählten die Patres "Harmonia Mundi", nach dem Werk "De Harmonia Mundi", das der Humanist, Philosoph und Franziskaner Francesco Zorzi im 16. Jahrhundert im Kloster verfasst hatte. 2019 wurden 1500 Flaschen produziert, mit dem Erlös werden Stipendien für die im Haus lebenden Studenten finanziert. Bei der Produktion hilft eine Gruppe von Venezianern und Freunde des Klosters, die sich unter dem Namen "La lagune in un bicchiere" (die Lagune im Weinglas) als Verein zusammengeschlossen haben. Der Wein ist besonders, weil er ein bisschen nach dem Salz der Lagune schmeckt. Der älteste Wein Venedigs, schwärmen Kenner, von unglaublich guter Qualität. Pater Rino freut sich, dass man die Tradition des Klosters, die bis ins Mittelalter zurückgeht, wiederaufgenommen hat.
Noch vor zwanzig Jahren, als Pater Rino hierher kam, lebten zwanzig Franziskaner im Kloster. Damals war der parocco, der Pfarrer der Gemeinde, für die Messe und den Kontakt zu den Menschen im Viertel zuständig, heute haben die Brüder diese Aufgaben übernommen. Auch das ist eine Folge des Massentourismus, dass es in Venedig kaum noch normale Kirchenbesucher und immer weniger Pfarrer gibt. "Der Tourismus bestimmt das Leben von uns allen hier," sagt Stefano Cavalli bedauernd, "wobei wir in Castello noch weitgehend verschont davon sind".
Ein so großes Kloster und so wenige Brüder, hat das nicht schon längst Begehrlichkeiten geweckt? Natürlich, die beiden Gasometer, längst im Privatbesitz, wurden von einem österreichischen Investor erworben, der hier zwei Luxushotels errichten will und im Viertel, quasi als Zugabe, mit einer Sportanlage wirbt. Die Menschen im sestiere Castello sind dagegen, die Brüder auch, man hofft, dass die Denkmalschutzbehörde keine Genehmigung erteilt. Im Moment scheint es, dass sich das Vorhaben durch Corona ohnehin erledigt hat.
Zum Kloster, wenige hundert Meter vom Arsenal und den Ausstellungsflächen der Biennale entfernt, finden nur wenige Touristen, meist Bewunderer oder Kenner Palladios. Staunend stehen die Besucher vor der prächtigen Fassade, die Andrea Palladio 1568 geschaffen hat. In ihrer strengen Geometrie, mit den Säulen und Giebelfeldern erinnert sie an einen antiken Tempel und entstand nach einem komplizierten System genau errechneter Proportionen. Mit seinem ungeheuren Ideenreichtum konnte der geniale Baumeister aus Vicenza souverän mit klassischen Elementen spielen und hat, obwohl er nur Kirchen baute, maßgeblich das Aussehen Venedigs geprägt. Im Innern der gotischen Kirche beeindruckt die eher einfache Ausstattung und die Höhe des Kirchenschiffs, so als wollte man sich hier, nahe der Lagune, auf das Wesentliche, die Nähe zu Himmel und Wasser, besinnen.
Hinter der Kirche schließt sich, viel niedriger und in dunklem venezianischem Rot, das Klostergebäude mit einem weitläufigen Garten an. Es gehörte schon immer zu den Besonderheiten Venedigs, dass sich verschiedene Baustile überlagerten, was auf den ersten Blick merkwürdig heterogen erscheint, aber dabei seine besondere Faszination ausmacht.
Fast zur selben Zeit wie das Kloster im Stadtgebiet entstand ein zweites Kloster auf der Insel San Francesco del Deserto, wo der Legende nach Franziskus von Assisi auf dem Rückweg von Ägypten 1220 Station gemacht hat. Die winzige Insel ist heute nur mit dem privaten Boot zu erreichen. Bei seiner Errichtung hat es sicher zum Prestige des Klosters beigetragen, dass es sich in unmittelbarer Nähe von San Pietro in Castello befand, das damals noch Sitz des Patriarchen war. Das größte und bis heute bodenständige Viertel Venedigs hat seinen Namen von der Kirche San Pietro in Castello, die vor dem Bau von San Marco zuerst Basilika der Stadt war. San Marco, 1036 in Auftrag gegeben, war damals die Kapelle des Dogen.
Mit der Renovierung der Kirche im 16. Jahrhundert wurden die Minderen Franziskanerbrüder als eigener Ordenszweig anerkannt. Durch wohlhabende Gönner wurde das Kloster im Lauf der Jahrhunderte erweitert, im Innern geschmückt mit einem weitläufigen Säulengang.
Früher gab es dreihundert Klöster, verteilt im ganzen Stadtgebiet, die Napoleon während seiner kurzen Herrschaft, nach dem Ende der Dogenrepublik im Jahr 1806 aufgelöst und ihre Bewohner schlichtweg hinausgeworfen hat. Mit der Einheit Italiens wurden sie endgültig säkularisiert. Meist wurden zunächst Soldatenunterkünfte, später Schulen daraus. Erst 1881 konnten die Patres in ihr Kloster zurückkehren und begannen mit der mühsamen Restaurierungsarbeit. Heute ist San Francesco della Vigna eines der drei Klöster, die im Stadtgebiet noch erhalten sind.
In schlaflosen Nächten zieht es Pater Rino in die Bibliothek
Wir gehen mit Pater Rino Sgarbossa durch die Räume der Bibliothek, die mehrere Räume im ersten Stock einnimmt. Manchmal komme er in schlaflosen Nächten hierher, erklärt Pater Rino, um in den alten Büchern zu blättern. Zweihunderttausend Bände befinden sich in der Bibliothek, in die viele Bestände aus den aufgelösten Klöstern eingegangen sind, darunter vierzigtausend sehr wertvolle, alte Bände zur Geschichte Venedigs und seiner Inseln. Ehrfürchtig betrachten wir uralte Bände mit Pergamenteinband, eine Sammlung alter Bibeln und einen über achthundert Jahre alten Band mit Zeichnungen und Adressen von Herbergen in Jerusalem: Der erste bekannte Reiseführer für Kreuzfahrer, aus dem 13. Jahrhundert! Pater Rino ist immer wieder erstaunt, wenn er dieses ungewöhnliche, ziemlich vergilbte Buch in der Hand hält. Es enthält Zeichnungen von Herbergen, Adressen und Wegbeschreibungen. Schließlich waren es Franziskaner, die den Aufenthalt der Kreuzfahrer in Jerusalem organisierten, auch damals schon brauchte es Reiseführer. Angesichts der verblichenen Einbände aus Leder und Pergament meint man die Geschichte Venedigs zu riechen. Sind diese Schätze unter Verschluss? Aber nein, erwidert Pater Rino, man kann sie besichtigen. Zwar akzeptieren die Patres keine Einzelpersonen, das würde den Klosteralltag zu sehr stören, aber Gruppen sind nach Anmeldung willkommen. Häufig kommen Schulklassen hierher, denen Pater Rino auch die hohe Kunst des Buch- und Bibeldrucks erklärt. Schließlich bleiben wir staunend vor einem Glaskasten stehen: einem Koran von 1537 und der erste, der in arabischer Schreibschrift in Venedig gedruckt wurde. Erst vor kurzem hat der Konsul der Vereinigten Emirate der Gemeinschaft einen besonders gesicherten Schaukasten geschenkt. Auftraggeber war wahrscheinlich eine in Venedig lebende Familie muslimischen Glaubens.
Wir blicken zum Fenster hinaus: Möwen fliegen über das graugrüne Wasser, bricole aus Holz bezeichnen die Fahrrinnen zu den umliegenden Inseln, von der nahen Haltestelle Fondamente nuove legt das Boot nach Murano ab. Der ganze nördliche Teil der Lagune mit seinen Fischteichen und Salzwiesen ist heute Naturschutzgebiet. 520 Quadratkilometer umfasst die Lagune von Venedig, die größte des Mittelmeers. Auch Bücher über das empfindliche System der Lagune sind im Kloster reichlich vorhanden. Ohne den Austausch mit dem Meer bei Ebbe und Flut wäre die Lagune ein lebloser Teich. Seit der Entstehung Venedigs hat die Lagune die Stadt geschützt. Erst durch die Umweltsünden in unserer Zeit, den von 30 000 Motorboten verursachten Wellengang, die Kreuzfahrtschiffe im Stadtgebiet und vieles andere, ist das Wasser zur Bedrohung geworden.
Wehmütig blicken wir zurück, als wir die ruhige Welt des Klosters verlassen und versprechen, zur Messe wiederzukommen. In den letzten Monaten ging Pater Rino jeden Tag durch die Stadt, um Sonnenaufgänge über San Giorgio, seltene Lagunenvögel und die Lichtspiele auf den Kanälen in der fast leeren Stadt zu fotografieren. Wie alle im Kloster wünscht er sich, dass Venedig zu einem vernünftigen Maß an Tourismus finden könnte. Den Brüdern ist es wichtig, ein Bezugspunkt im sestiere Castello zu bleiben. Während an Karneval die Besucher auf dem Markusplatz tobten, hatten die Patres ein Fest für die Kinder im Viertel organisiert.
Am späten Nachmittag gehen Adriana und ich an dem Weinladen mit Stehausschank in der Calle San Giustina vorbei und kehren auf eine ombra ein: Ombra, Schatten, heißt das 0,1 Deziliter Glas Wein, weil es früher im Schatten der Glockentürme ausgeschenkt wurde. Auch der Wein von San Francesco della Vigna thront im Regal. Als wir später zum Abendessen den Korken einer ausgewählten Flasche "Harmonia Mundi" öffnen, kommt es uns vor, als ströme uns nicht nur das volle Bouquet roter Trauben, sondern der salzige Geruch der Lagune mit ihrer ganzen Geschichte entgegen.