Warum preußische Katholiken weniger extrem wählen
In Münster fährt die AfD regelmäßig ihre bundesweit schlechtesten Ergebnisse ein – die Gründe könnten in der Vergangenheit liegen: Im 19. Jahrhundert wurden Katholiken im "Kulturkampf" in Preußen unterdrückt – das hat auch heute noch Auswirkungen auf die Politik, hat der Zürcher Politikwissenschaftler Lukas Haffert herausgefunden. Er vergleicht historische Daten mit heutigen Wahlergebnissen und kommt zu einem überraschenden Schluss: Katholiken wählen weniger AfD – aber nur in den ehemals preußischen Gebieten. Seine Studie "The long-term effects of oppression: Prussia, Political Catholicism and the Alternative für Deutschland" (als Preprint veröffentlicht im August 2020) zeichnet nach, wie historische Unterdrückungserfahrungen mehr als ein Jahrhundert danach noch Wirkung zeigen – und warum die AfD in Münster auf keinen braunen Zweig kommt.
Frage: Herr Haffert, bisher haben sich die Katholiken in Deutschland viel darauf eingebildet, dass sie im Dritten Reich und in der DDR so widerständig waren. Können sie nach Ihren Forschungen immer noch stolz darauf sein?
Haffert: Vielleicht nicht alle, aber der Effekt, den man für die dreißiger Jahre sehr gut kennt, ist immer noch da. Nur eben nicht mehr in ganz Deutschland.
Frage: Wo findet man diesen Effekt heute noch, dass Katholiken weniger extrem wählen?
Haffert: Man könnte das stark verkürzt so beschreiben: Wo Karneval stark ist, ist die AfD schwach. Das liegt daran, dass die meisten Karnevalshochburgen in den katholischen Gebieten des früheren Preußen liegen.
Frage: Bisher hat man die Wahlerfolge der AfD eher mit einem Gefühl von wirtschaftlichem oder kulturellem Abgehängtsein erklärt. Ist dieses Erklärungsmodell durch Ihre Forschung überholt?
Haffert: Nein, überhaupt nicht. Sozialwissenschaftliche Erklärungen sind immer vieldimensional. Der Effekt, den der Faktor Katholizismus hat, ist auch etwas anders geartet als aktuelle Gefühlslagen. Es geht nicht darum, warum Menschen die AfD wählen, sondern warum Leute das trotz ähnlicher Anreize nicht tun. Das Gefühl, abgehängt zu sein, ist ein Anziehungsfaktor: Leute In zurückgelassenen ländlichen Gebieten wählen AfD; Leute, die sich vor bestimmten ökonomischen oder kulturellen Veränderungen fürchten, wählen AfD, lauten diese Erklärungen. Was ich untersuche, ist ein genau gegenläufiger Faktor, sozusagen ein Immunisierungsfaktor, der erklärt, warum Wähler trotz einer bestimmten ökonomischen oder kulturellen Erfahrung diesen Schritt nicht gehen. Meine Ergebnisse stehen nicht im Widerspruch zu anderer Forschung, sie erklären vielmehr, warum diese auf die Gegenwart bezogenen Erklärungen nicht überall in gleicher Weise zum Tragen kommen.
Frage: Wie kam es überhaupt dazu, dass Sie sich für das Wahlverhalten von Katholiken interessierten?
Haffert: Eigentlich interessiert mich etwas anderes, nämlich Stadt-Land-Gegensätze. Es ist sehr spannend, dass es ländliche Regionen gibt, in denen überhaupt nicht prototypisch ländlich gewählt wird. Wenn man ganz holzschnittartig einen Gegensatz aufmachen wollte, dann würde man sagen, dass die AfD im ländlichen Raum viel stärker mobilisiert als in den Städten. Wenn man nur den Faktor Land betrachten würde, würde man im Münsterland oder im Emsland sehr starke AfD-Wahlergebnisse erwarten. Das ist aber gar nicht der Fall – und ich habe mich gefragt, warum das so ist. So bin ich zu dem Thema gekommen. Ich interessiere mich für Sozialkapital im ländlichen Raum, nicht primär für Katholizismus.
Frage: Ist Sozialkapital, also etwa ein lebendiges Vereinsmilieu, denn eine Versicherung gegen Extremismus?
Haffert: Es gibt eine bestimmte Form von Sozialkapital, die resilient macht, aber nicht jede. Es gibt auch das Argument – das hat schon 2015 die Studie "Bowling for Facism" ausgeführt – dass die Anzahl der Vereine unter bestimmten Kontextbedingungen positiv mit den NSDAP-Wahlergebnissen korreliert hat. Vereine sind kein Allheilmittel. Alle Leute in irgendwelche Vereine stecken zu wollen bringt nichts. Es kommt auch darauf an, was das für Vereine sind.
Frage: Was zeichnet dann das Sozialkapital im "preußischen" Katholizismus aus, das Sie beschreiben?
Haffert: Im Preußen des 19. Jahrhunderts waren die Katholiken eine unterdrückte Minderheit. Nicht nur im Kulturkampf waren sie immer wieder Ziel von staatlichen und gesellschaftlichen Repressionsmaßnahmen. Das hat dazu geführt, dass sich ein eng geknüpftes, selbstorganisiertes katholisches Milieu aus Vereinen gebildet hat, um sich gegen diese Unterdrückung und Marginalisierung zur Wehr zu setzen. Das kann dazu beitragen, den Unterschied zu den Teilen Deutschlands außerhalb Preußens zu erklären, wo die Katholiken nicht unterdrückt wurden. Dort hat sich kein vergleichbares Milieu entwickelt, und Katholiken sind heute viel offener dafür, AfD zu wählen.
Frage: Preußen richtete sich nicht nur im Kulturkampf gegen die Kirche, sondern auch gegen die Sozialdemokratie. Könnte man ähnliche Effekte in klassisch sozialdemokratisch geprägten Gebieten Preußens feststellen?
Haffert: Das habe ich empirisch nicht untersucht. Es liegt natürlich nahe, dass die Erfahrung eines autoritären Staats und einer Mobilisierung dagegen nicht etwas Spezifisches für Katholiken ist, und dass andere historisch staatlich-unterdrückte Milieus heute ähnliche Effekte zeigen. Ich würde aber weniger starke Effekte vermuten: Vom katholischen Milieu hat sich verhältnismäßig noch mehr erhalten als vom sozialdemokratischen.
Frage: Und wie wirkt sich Protestantismus aus?
Haffert: Beim Protestantismus scheinen mir derartige historischen Kontinuitäten, wie ich sie beim Katholizismus finde, überhaupt nicht vorhanden,Zum Beispiel ist die AfD im protestantischen Schleswig-Holstein sehr schwach, obwohl die NSDAP dort extrem stark war. Eigentlich zeigen Untersuchungen, dass die AfD heute da stark ist, wo auch die NSDAP stark war. Woran diese Entwicklung in Schleswig-Holstein liegt, und ob das etwas mit Religion zu tun hat, dafür liefert meine Studie keinen Erklärungsansatz.
Frage: Können Sie über die historische Unterdrückungserfahrung hinaus etwas spezifisch Katholisches feststellen, das zu diesem Widerstand führt?
Haffert: Was als historischer Prozess spezifisch katholisch ist, ist die Mobilisierung in Form von Vereinen und Verbänden, wie dem Volksverein für das katholische Deutschland und der Katholikentagsbewegung. Das ist eine gewissermaßen spezifisch katholische Form von Sozialkapital, die da generiert wurde. Womit ich mich aber gar nicht beschäftigt habe, ist die Selbstwahrnehmung und der Glauben heutiger Katholiken. Das geben meine Daten nicht her.
Frage: Nicht nur in den preußischen Gebieten haben Katholiken in den 1930er Jahren verhältnismäßig weniger NSDAP gewählt. Warum zeigte sich dort, viel näher am 19. Jahrhundert, der von Ihnen heute festgestellte Effekt nicht?
Haffert: Die neueste Forschung zu den Dreißigern geht davon aus, dass damals die Immunisierung der Katholiken gegen den Nationalsozialismus im Grunde durch den Klerus stattgefunden hat. Die Bischöfe, die Priester vor Ort haben gesagt, Katholiken dürften nicht faschistisch wählen. Überspitzt gesagt: Antiautoritäres Wählen war hier selbst ein autoritätshöriger Akt. Das ist ein Mechanismus, der heute keine sehr große Rolle mehr spielt. Was ich für die katholischen Milieus im Rheinland, in Westfalen oder im Emsland zu zeigen versuche, ist viel eher eine zivilgesellschaftliche Prägung, eine Haltung, die autoritären politischen Angeboten grundsätzlich fernsteht. Ich deute das Wahlverhalten dort nicht als Ausdruck einer inhaltlich besseren Form von Autoritätshörigkeit, sondern als Ergebnis einer politischen Kultur, die weniger top down, weniger hierarchisch, eben weniger autoritär ist, und die deshalb auch mit autoritären Politikangeboten generell stärker fremdelt.
Frage: Welche Lehren kann die Kirche in ihrem Einsatz für Demokratie heute daraus ziehen: Politische Appelle durch Bischöfe und Verbände, oder den indirekten Weg einer Stärkung der katholischen Zivilgesellschaft verfolgen?
Haffert: Beides ist sinnvoll. Aus meiner Forschungsperspektive heraus sehe ich aber den zivilgesellschaftlichen Teil als besonders wirksam an. Ganz viel von dieser Imprägnierung gegen die autoritäre Versuchung erfolgt nicht in der konkreten Auseinandersetzung mit autoritären Politikangeboten, sondern durch eine viel basalere Integration in die Gesellschaft. Daher sollte man die katholische Zivilgesellschaft stärken, ohne das deutliche Wort zu lassen.
Frage: Nun leiden aber die klassischen katholischen Organisationen auch in ihren Stammlanden wie die Kirche insgesamt an einem Mitgliederschwund. Gibt es ohne die Kolpingfamilie, ohne den DJK-Sportverein, ohne die Jugendverbände eine Chance, dass diese Imprägnierung trotzdem aufrecht erhalten wird?
Haffert: Das wird sicher schwieriger. Aktuell zeigt aber eine wachsende Zahl von Studien, die wie ich historische Kontinuitäten untersuchen, dass man oft noch eine gewisse Persistenz nachweisen kann, selbst wenn die ursprünglichen Trägerorganisationen gar nicht mehr da sind. Das Institutionengefüge kann sich enorm umwälzen und dennoch findet man ein Überdauern alter struktureller Faktoren. Man nimmt an, dass dafür Sozialisation im ganz kleinen Raum, in der Familie, eine Rolle spielt. Familiäre Einflüsse können noch eine ganze Weile weiterbestehen, nachdem es keine stützenden Institutionen mehr gibt. Die besten Chancen für ein Fortbestehen gibt es aber immer dann, wenn es einen Dreiklang aus Sozialisation in der Familie, in der Schule und in der Zivilgesellschaft gibt.
Frage: Haben Sie hier eine deutsche Sondersituation aufgezeigt? Oder könnte man Ihre Ergebnisse auch in anderen Ländern bestätigen?
Haffert: Eine Sondersituation ist das sicher nicht. Persistenz gibt es überall, in Ungarn zum Beispiel hat die katholische Kirche bestimmte politische Loyalitäten über die Zeit des Kommunismus hinweg bewahrt. Organisationen können Bindungen sehr lange erhalten, auch über Phasen ganz anderer politischer Regime hinweg. Bei der Generalisierung auf andere europäische Staaten vermuten andere Forscher, dass es darauf ankommt, ob die Kirche historisch mit dem Staat im Konflikt stand, beispielsweise in Frankreich, oder ob sie mit dem Staat mehr oder weniger eins war, wie in Spanien. Davon kann es abhängig sein, ob ein autoritärer oder antiautoritärer politischer Katholizismus wirksam ist.
Frage: In Polen sehen wir gerade einen sehr autoritären politischen Katholizismus.
Haffert: Polen ist ein gutes Beispiel für sehr lange historische Kontinuitäten: Hier kann man schon beim Blick auf die Wahlergebnisse auf der Landkarte immer die historischen Grenzen von Preußen, Österreich und Russland sehen. Die PIS gewinnt die Wahlen nicht bei den "preußischen" Wählern, sondern bei den historisch russischen Wählern. Diese Art der Persistenz ist in Polen extrem stark: Bei der Präsidentschaftswahl, bei der Europawahl, überall sieht man die alten Grenzen. Das bedeutet angesichts der mehrheitlich katholischen Polen, dass sich auch dort Katholiken je nach Hintergrund ganz anders verhalten – so wie auch bayerische und preußische Katholiken sich in Bezug auf die AfD ganz anders verhalten.