MHG-Studienleiter Dreßing: Kirche hat Missbrauch häufig vertuscht
Der Mannheimer Wissenschaftler Harald Dreßing sieht Hinweise darauf, dass in der katholischen Kirche in der Vergangenheit viel häufiger sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche vertuscht wurde als etwa in Schulen oder Sportvereinen. "Die Ergebnisse unserer Untersuchung zeigen deutliche Unterschiede zwischen der katholischen Kirche und anderen Institutionen", schreibt Dreßing in einem Beitrag für die Oktober-Ausgabe der Herder Korrespondenz. "Die Strategie der institutionellen Verharmlosung und Vertuschung wurde danach in der katholischen Kirche zumindest bisher häufiger und intensiver praktiziert als in anderen Institutionen", so der Wissenschaftler.
Zusammen mit vier weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit der Medizinischen Fakultät Mannheim und dem Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg habe er Daten aus einem Teilprojekt der MHG-Studie analysiert, die sich mit der Analyse von Straftaten befassen und mit Strafverfahren gegen Mitglieder anderer Institutionen wie Schulen verglichen, schreibt Dreßing. Die Analyse basiere auf Akten von 67 Priestern und 52 Vertretern anderer Institutionen. Das Ergebnis: Bei 27 Prozent der angeklagten Kleriker hätten Kolleginnen und Kollegen versucht, die Taten zu verharmlosen – im Vergleich zu 15 Prozent bei den Angeklagten der Vergleichsgruppe.
Bei den Versuchen der Vertuschung und Bagatellisierung durch offizielle und hierarchisch höher gestellte Vertreter der Institution habe es auffällige und statistisch signifikante Unterschiede gegeben. "Bei 52 Prozent der Kleriker finden sich Hinweise auf eine formelle institutionelle Verharmlosung oder Vertuschung, bei den Tätern aus anderen Institutionen ist das nur bei 3 beziehungsweise 6 Prozent der Fall", so Dreßing. "Diese Erkenntnisse legen nahe, dass Verantwortliche in der katholischen Kirche Vorwürfen gegen Kleriker wegen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern oder Jugendlichen zumindest in der Vergangenheit umfassender als Vertreter anderer Institutionen verharmlost und vertuscht haben."
Es brauche Wege zum Machtabbau in der Kirche
Auch die Hypothese, dass Jungen häufiger Opfer von sexuellem Missbrauch durch katholische Priester geworden seien, weil diese einen leichteren Zugriff auf vorwiegend männliche Messdiener hätten, habe sich durch die Ergebnisse nicht bestätigt. Obwohl der Vatikan Ortsbischöfen 1994 offiziell erlaubt habe, weibliche Messdiener zuzulassen, sei diese Zahl der Mädchen, die sexuell missbraucht wurde, sogar gesunken. Bei den Verurteilten in anderen Institutionen liege der Schwerpunkt des Missbrauchs dagegen bei minderjährigen Mädchen.
Die Diskussionen beim Synodalen Weg sind nach Ansicht des Forschers daher sinnvoll. "Der Einschätzung, dass das Vertrauen der Menschen durch klerikalen Machtmissbrauch missbraucht wurde und es nötig ist, Wege zum Machtabbau in der Kirche zu finden, ist auf dem Boden unserer wissenschaftlichen Analyse uneingeschränkt zuzustimmen." Der Missbrauch klerikaler Macht sei für die katholische Kirche ein spezifischer Risikofaktor für sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen "und dies könnte auch maßgeblich dafür verantwortlich sein, dass Missbrauchsvorwürfe in der katholischen Kirche zumindest in der Vergangenheit stärker vertuscht und verharmlost wurden als in anderen Institutionen."
"Solange innerkirchliche Kräfte in Richtung eines Klerikalismus aber grundsätzlich weiter wirksam sein könnten, müssen auch Bemühungen um die Aufarbeitung des Missbrauchsgeschehens aufmerksam beobachtet werden", so Dreßing. Ob die von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Missbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, vorgelegte Erklärung zur unabhängigen Missbrauchsaufarbeitung tatsächlich eine von klerikalen Mechanismen unabhängige Aufarbeitung angestoßen habe, könne nur "eine aus wissenschaftlicher Sicht notwendige begleitende kritische Analyse zeigen." Die Ergebnisse dieser Untersuchung dürften allerdings nicht als Beweise gesehen werden, sondern lediglich als Hinweis für die Gültigkeit einer Hypothese, schreibt Dreßing, der als Verbundskoordinator auch an der MHG-Studie beteiligt war. (cbr)