Wenn Kardinäle zurücktreten: Kirchenfürsten im Ausnahmezustand
Die Kardinalswürde ist unverlierbar. Dieser Grundsatz galt lange als so selbstverständlich, dass er keiner Begründung bedurfte – im renommierten "Handbuch des katholischen Kirchenrechts" etwa wird die Aussage gar nicht belegt. Der Rücktritt des Jesuitenkardinals Louis Billot 1927 ist dort nur eine historische Fußnote, die nicht näher ausgeführt wird. Seine Demission nach einem Streit über sein Engagement für die monarchistische "Action française" blieb die einzige im 20. Jahrhundert. Heute ist die Unverlierbarkeit des Kardinalats keine Selbstverständlichkeit mehr. Mit dem Rücktritt von Giovanni Angelo Becciu von den mit der Kardinalswürde verbundenen Rechten sind im Pontifikat von Franziskus schon drei Kardinäle in verschiedener Weise ihrer Ämter und Privilegien enthoben worden.
Ein kirchenrechtliches Verfahren speziell dafür gibt es nicht, nur allgemeine Regelungen zum Verzicht auf Privilegien und Kirchenämter. Der Codex Iuris Canonici, das Gesetzbuch der Kirche, kennt zwar den Rücktritt eines Kardinals aus dem aktiven Kuriendienst. Wie Bischöfe sind sie mit 75 Jahren gehalten, dem Papst ihren Rücktritt anzubieten. Mit 80 Jahren verlieren sie auch das Recht, in einem Konklave den neuen Papst mitzuwählen. Kardinäle bleiben sie jedoch – insofern ist die Würde unverlierbar, auch wenn die Erhebung zum Kardinal kein Sakrament ist.
Der Papst kann tun, was er für richtig hält
Da das Kardinalat aber eine Einrichtung kirchlichen, nicht göttlichen Rechts ist, kann der Papst trotz der fehlenden Regelungen umfassend handeln, auch wenn das Kirchenrecht dazu nichts vorsieht; er kann sogar gegen das Kirchenrecht handeln. Kraft seines Amtes verfügt der Papst, so ist es in can. 331 CIC festgehalten, "in der Kirche über höchste, volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt, die er immer frei ausüben kann" – und dazu gehört auch der Entzug der Kardinalswürde oder die Annahme eines Rücktritts von der Kardinalswürde oder damit verbundenen Rechten.
Die drei Präzedenzfälle aus der Amtszeit des gegenwärtigen Papstes sind jeweils anders gelagert. Den klarsten Schnitt nahm Papst Franziskus bei dem US-amerikanischen Kardinal Theodore McCarrick vor. McCarrick wurden sexueller Missbrauch in mehreren Fällen vorgeworfen. Er ist auch der einzige, bei dem man in vollem Umfang von einer Entfernung aus dem Kardinalat sprechen kann und auf den die überschriftentaugliche Formulierung "Ex-Kardinal" zutrifft. McCarrick hatte im Juli 2018 dem Papst seinen "Rücktritt als Mitglied des Kardinalskollegiums" angeboten, den dieser auch angenommen hat. Zugleich ordnete Papst Franziskus an, dass er keinerlei öffentliche Aufgaben mehr wahrnehmen dürfe und bis zu einem kirchenrechtlichen Verfahren unter Hausarrest steht. 2019 wurde McCarrick ganz aus dem Klerikerstand entlassen. Hier ist der Fall klar gelagert: McCarrick ist kein Kardinal mehr und hat keinerlei mit dem Amt verbundene Rechte, Privilegien und Pflichten.
Anders stellt sich der früheste der drei Fälle dar. 2015 wurde der schottische Kardinal Keith Michael Patrick O'Brien, damals schon als Erzbischof von St. Andrews und Edinburgh emeritiert, ebenfalls aufgrund von Vorwürfen sexualisierter Gewalt vom Papst gemaßregelt: Sein "Rücktritt von den Rechten und Privilegien eines Kardinals" wurde angenommen. Schon 2013 hatte O'Brien nach seinem Rücktritt als Erzbischof auf die Teilnahme am Konklave verzichtet. In der Mitteilung zu diesem Rücktritt wurden zur näheren Bestimmung der verlorenen Rechte drei Canones angeführt: can. 349 CIC, der die Aufgabe der Papstwahl und die Beratung und Unterstützung des Papstes regelt, can. 353 CIC, der die Teilnahme am Konsistorium, einem Beratungsorgan des Papstes, umschreibt, sowie can. 356 CIC zur Zusammenarbeit mit dem Papst. Kardinalstitel und -insignien führte O'Brien bis zu seinem Tod weiter, in der Rücktrittserklärung wurde er, anders als McCarrick, auch noch als "Eminenz" bezeichnet. Das Presseamt führt ihn, ebenfalls im Gegensatz zu McCarrick, auch noch in seiner Liste der Kardinäle auf.
Kardinal mit Titel, aber ohne Rechte
Im nun jüngsten Fall, dem Beccius, fehlt eine derart klare Umschreibung der Konsequenzen. Gerade einmal 36 Wörter umfasst die knappe Meldung, die zur ungewöhnlichen Abendzeit veröffentlicht wurde – normalerweise erscheinen die Mitteilungen des Pressesaales pünktlich zum Mittag. Neben dem Rücktritt vom Präfektenamt ist in der Mitteilung auch die Rede von den "mit dem Kardinalat verbundenen Rechten", ohne diese näher zu spezifizieren. Wie bei O'Brien ist nach wie vor die Rede von "seiner Eminenz dem Kardinal". Auch wenn die Bestätigung aus dem Vatikan noch aussteht, wird man davon ausgehen können, dass wohl auch Becciu Titel und Insignien weiter führen wird. Wie O'Brien ist wohl auch er strenggenommen kein "Ex-Kardinal", sondern ein Kardinal ohne Rechte.
Bei O'Brien wurden die verlorenen Rechte noch näher bestimmt; bei Becciu fehlt eine derartige Einschränkung. Die drei genannten Canones beschreiben die wichtigsten Rechte, mit denen ein Kardinal an der Leitung der Kirche mitwirkt. Tatsächlich haben Kardinäle aber noch weitere Vorrechte. Zwar gibt es nicht mehr wie noch im Kirchenrecht von 1917 eine lange Liste mit 24 Privilegien der Kardinäle. An einigen Stellen nennt aber auch das gegenwärtige Recht einige: Kardinäle sind immer direkt dem Papst, nie dem Diözesanbischof unterstellt (Exemption, can. 357 § 2 CIC), sie dürfen überall Beichte hören (can. 967 § 1 CIC), nur der Papst selbst darf über sie richten (can. 1405 § 1 2°), sie dürfen den Ort einer Zeugenaussage selbst bestimmen (can. 1558 § 1 CIC) und in einer Kirche begraben werden (can. 1242 CIC). 1999 hat das Vatikanische Staatssekretariat zudem eine Liste der liturgischen und rechtlichen Privilegien und Vollmachten von Kardinälen ("Elenchus privilegiorum et facultatum S.R.E. Cardinalium in re liturgica et canonica") veröffentlicht, die Kardinäle im wesentlichen in ihren Rechten mit Diözesanbischöfen gleichstellt.
Bei den zur Verfügung stehenden Informationen über die Rücktritte handelt es sich um Mitteilungen des Presseamtes des Heiligen Stuhls, keine formalen Rechtsdokumente. Insofern kann man aus Parallelen und Unterschieden in der Formulierung keine zwingenden Schlüsse ziehen: Ist die Aufzählung von Normen bei O'Brien einschränkend (nur diese Rechte werden entzogen) oder bekräftigend (insbesondere diese wichtigen Rechte werden entzogen)? Wurde bei Becciu nur aus Zeitdruck ohne weitere Details formuliert, und es soll dieselbe Regelung wie bei O'Brien erzielt werden? Oder werden hier bewusst alle aus der Kardinalswürde erwachsenen Rechte entzogen?
Ohne Kardinalsrechte wird der Prozess einfacher
Insbesondere mit Blick auf das Verfahrensrecht könnte das durchaus gewollt sein: Schließlich hieße das auch, dass gegen Becciu nicht nur vor dem Papst, sondern auch vor einem ordentlichen vatikanischen Gericht ein Prozess geführt werden könnte, zudem müsste er sich auch mit möglichen Zeugenaussagen nach dem Gericht richten. Explizit nicht genannt sind die aus dem Kardinalat erwachsenden Pflichten: Ein Fortbestehen der Residenzpflicht in Rom (can. 356 CIC) dürfte für einen eventuellen Prozess nützlich sein, um den potentiellen Angeklagten verfügbar zu halten. Allerdings regelt das Kirchenrecht nur eine Residenzpflicht für Kardinäle, die ein Kurienamt bekleiden; Regelungen zu ehemaligen Kurialen gibt es ebensowenig wie Regelungen für emeritierte Diözesanbischöfe.
Auch wenn es nur drei Präzedenzfälle aus der jüngeren Zeit gibt: Da alle drei ins Pontifikat von Franziskus fallen, lassen sich daraus doch Schlüsse ziehen, wie der Papst zum Kardinalat steht. Dreimal handelt es sich um rechtliche Verfehlungen, die Degradierung ist als Strafe zu verstehen, nicht als Maßregelung für unbotmäßige Kardinäle. Gelegenheit dazu hätte es gegeben: Nach dem Brief der vier Kardinäle Meisner, Burke, Brandmüller und Caffarra, die die Position des Papstes zum Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen rügte, hatte der Dekan der Römischen Rota, Pio Vito Pinto, einen disziplinierenden Entzug der Kardinalswürde ins Spiel gebracht, nur um kurz darauf zurückzurudern: "Wie ich Franziskus kenne, wird er das nicht tun", gab er zu Protokoll.
Für den Papst ist das Kardinalat kein politischer Spielball
Immer noch bleibt also die Unverlierbarkeit der Grundsatz, das Kardinalat ist für den Papst kein politischer Spielball. Mit Becciu hat es einen Kurialen getroffen, der kirchenpolitisch voll auf Franziskus' Linie ist. Nur im eindeutigsten und schwersten der drei Fälle, bei McCarrick, hat der Papst zum äußersten Mittel gegriffen – bei einem Fall, bei dem die später folgende Entfernung aus dem Klerikerstand bereits abzusehen war. Für den Grundsatz der Unverlierbarkeit spricht auch, dass in jedem Fall die Degradierung per Rücktritt vorgenommen wurde – wenn auch wohl nicht ganz freiwillig, wie nicht zuletzt die jüngsten Äußerungen Beccius zeigen.
Im Rahmen des Jurisdiktionsprimats wäre problemlos auch eine Entfernung aus dem Kardinalat ohne Mitwirkung des Betroffenen durch den Papst möglich gewesen. Der Rücktritt ermöglicht dagegen einen Rückgriff auf die allgemeinen Regeln des Kirchenrechts durch Amtsverzicht und zwingt den Papst nicht zu einer völlig über dem Recht stehenden Vorgehensweise. Zugleich zeigt sich doch die Problematik eines autonom mit nur loser Rückbindung ans Recht handelnden Papstes: In allen drei Fällen wurde die Degradierung nicht nach einem formalen Prozess, sondern vor oder statt einer juristischen Klärung vorgenommen – kein gutes Zeichen für ein geordnetes und unparteiisches Verfahren. Dazu kommt der Anschein, dass nur kircheninternen Erkenntnissen vertraut wird: Staatliche Verfahren und sogar Urteile unterer Instanzen wie beim französischen Kardinal Philippe Barbarin oder bei Kurienkardinal George Pell führten bisher nicht zum unmittelbaren Durchgreifen.
Die bei Degradierungen entstehende Figur des Kardinals ohne aus dieser Würde erwachsenen Rechte bleibt notwendig prekär: Was das im Detail bedeutet, ist ohne eine Rechtsgrundlage reichlich interpretationsoffen. Mit klaren Regeln sollte man dennoch nicht rechnen, zeigt doch das letztlich reichlich zusammengeschrumpfte Projekt eines Bischofstribunals, wie schwer sich die Kirche damit tut, über ihre höchsten Repräsentanten in rechtsförmigen Verfahren zu verhandeln.
Im konkreten Fall Beccius ist noch vieles unwägbar – über Spekulationen und emotionale Äußerungen des rechtlosen Kardinals selbst hinaus ist offiziell nicht bekannt, was für den Rücktritt wirklich ausschlaggebend war. Ohne weitere Informationen aus dem Vatikan bleibt vieles im Dunkeln, was nun für die ihrer Rechte enthobenen Kardinäle gilt. Sicher ist nur: Auch wenn das Kardinalat grundsätzlich unverlierbar bleibt – vogelfrei sind Kardinäle unter diesem Papst nicht. Aber auch nicht ohne Rechte: Becciu kündigte schon an, dass er sich verteidigen wolle.