Religionssoziologe Pickel zur Lage des Christentums in Ostdeutschland

"Die Ostdeutschen haben gelernt, gut ohne Glaube und Kirche zu leben"

Veröffentlicht am 02.10.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Leipzig ‐ An diesem Samstag begeht Deutschland den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit. Aus diesem Anlass spricht der Leipziger Religionssoziologe Gert Pickel im katholisch.de-Interview über den Stand der religiösen Wiedervereinigung von Ost und West – und die schwierige Lage des Christentums speziell in Ostdeutschland.

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Wie steht es 30 Jahre nach der Deutschen Einheit um das Christentum in Ostdeutschland? Und wie sehr unterscheiden sich die religiöse Landschaft und die Lage der Kirchen zwischen Ostsee und Erzgebirge von der Situation in Westdeutschland? Zu diesen Fragen nimmt der Leipziger Religionssoziologe Gert Pickel im Interview mit katholisch.de Stellung. Außerdem erläutert er, wo das Christentum im Osten trotz der dort herrschenden "Kultur der Konfessionslosigkeit" auch in Zukunft Überlebenschancen hat und was die Kirchen dafür tun müssen.

Frage: Herr Pickel, an diesem Samstag begeht Deutschland den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit. Aus diesem Anlass wird wieder einmal darüber diskutiert, ob die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten gelungen ist oder nicht. Wie lautet dazu mit Blick auf die Situation von Glaube und Kirche in Ost und West Ihr Befund?

Pickel: Es zeigt sich auf jeden Fall ein ambivalentes Bild. Zwar kann man sicher sagen, dass die religiöse Wiedervereinigung insgesamt geglückt ist: Die Kirchen und ihre Gläubigen in Ost und West sind – abgesehen von gelegentlich zu beobachtenden Verständigungsproblemen – in den vergangenen drei Jahrzehnten weitgehend geräuschlos zusammengewachsen. Dieses Zusammenwachsen ist allerdings anders abgelaufen, als es 1990 von vielen Menschen erwartet wurde: Eine Wiederbelebung der christlichen Traditionen und des Glaubenslebens hat in Ostdeutschland nicht stattgefunden. Im Gegenteil, wir erleben heute eher eine Anpassung des Westens an die säkularisierten Verhältnisse im Osten.

Frage: Sie sagen, die Gläubigen seien weitgehend geräuschlos zusammengewachsen, gleichzeitig sprechen Sie von gelegentlichen Verständigungsproblemen. Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Pickel: Ein Problem bis heute ist das mitunter fehlende Verständnis westdeutscher Christen für die Situation in Ostdeutschland. Was es für einen ostdeutschen Christen bedeutet, nahezu vollständig von einem konfessionslosen Umfeld, ja von einer Kultur der Konfessionslosigkeit umgeben zu sein, können Katholiken oder Protestanten im vielerorts immer noch volkskirchlich geprägten Westen kaum nachvollziehen. Und das führt in der Tat manchmal zu einer religiösen Sprachlosigkeit zwischen Ost und West.

„Katholiken und Protestanten in Ostdeutschland sind gegenüber dem Staat skeptischer als westdeutsche Christen – und das gilt vermutlich auch mit Blick auf eine mitunter als zu groß empfundene Nähe der Amtskirchen zum Staat und seinen Repräsentanten.“

—  Zitat: Gert Pickel

Frage: Gibt es aus soziologischer Sicht heute noch den typisch ostdeutschen Katholiken oder den typisch westdeutschen Protestanten? Oder sind solche Unterschiede zwischen den Gläubigen in Ost und West nach 30 Jahren nicht mehr erkennbar?

Pickel: Insgesamt spielen solche Unterschiede heute in der Tat kaum noch eine Rolle. Zum einen, weil die religiöse Bindung in der Bevölkerung insgesamt stark abnimmt, und zum anderen, weil die religiösen Bräuche und Riten – etwa die liturgische Praxis – in Ost und West auch während der Zeit der deutschen Teilung immer ähnlich waren. In dieser Hinsicht gab es nach der Wiedervereinigung auf beiden Seiten kaum Anpassungsschwierigkeiten im religiösen Miteinander. Wie gesagt: Am ehesten werden Unterschiede im Miteinander der Gläubigen heute noch durch die ostdeutsche Diasporasituation spürbar. Seit 1990 sind zum Beispiel Hunderttausende Menschen aus dem Osten in den Westen gezogen – darunter auch viele Christen, die ihre religiöse Sozialisation natürlich nicht an der ehemaligen innerdeutschen Grenze abgegeben haben. Wer als Christ in der ostdeutschen Diaspora aufgewachsen ist oder dort gelebt hat, dessen Prägung bleibt auch in seinem neuen Lebensumfeld im Westen bestehen – und das führt mitunter zu den beschriebenen Verständigungsproblemen.

Frage: Wie sehr unterscheiden sich ost- und westdeutsche Christen denn beim Blick auf den Staat? Ich habe im Vorfeld unseres Gesprächs gelesen, dass vielen ostdeutschen Christen die mitunter große Staatsnähe der beiden Amtskirchen und vieler Christen im Westen bis heute eher suspekt sei.

Pickel: Empirisch sind mir für diese These keine Belege bekannt. Grundsätzlich wissen wir aber, dass die Ostdeutschen aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem Überwachungs- und Unterdrückungsapparat in der DDR staatlichem Handeln gegenüber kritischer eingestellt  sind als die Menschen in Westdeutschland. Das gilt umso mehr für die ostdeutschen Christen, die in der DDR vielfältige Formen von Benachteiligung und Verfolgung durch das SED-Regime erdulden mussten. Insofern: Ja, Katholiken und Protestanten in Ostdeutschland sind gegenüber dem Staat skeptischer als westdeutsche Christen – und das gilt vermutlich auch mit Blick auf eine mitunter als zu groß empfundene Nähe der Amtskirchen zum Staat und seinen Repräsentanten.

Frage: Mit Blick auf die Deutsche Einheit ist immer wieder vom Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West die Rede. Gemeint ist damit in der Regel, dass sich der Osten den Verhältnissen im Westen annähern soll – etwa bei der wirtschaftlichen Entwicklung. Wie aber sieht es bei der Religion aus? Sie haben vorhin schon angedeutet, dass die Anpassung hier eher in die andere Richtung stattfindet. Können Sie das konkretisieren?

Pickel: Zunächst einmal muss man sich noch einmal die unterschiedlichen Voraussetzungen in Ost und West vor Augen führen: Während das SED-Regime 40 Jahre lang alles dafür getan hat, Glaube und Kirche zu unterdrücken und im DDR-Alltag nicht vorkommen zu lassen, waren weite Teile der Bundesrepublik zur selben Zeit stark volkskirchlich geprägt und die Kirchen mächtige und anerkannte Institutionen. Doch diese Zeiten sind nun schon seit einigen Jahren vorbei, und in der Tat nähert sich der Westen in Sachen Säkularisierung dem Osten inzwischen deutlich und kontinuierlich an. Der Rückgang des Religiösen in Westdeutschland fällt dabei natürlich umso stärker auf, weil er zahlenmäßig von einem ganz anderen Niveau aus stattfindet.

Bild: ©picture alliance/dpa

Gert Pickel ist Professor für Kirchen- und Religionssoziologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig.

Frage: In diesem Kontext begegnet einem immer wieder die These, dass die ostdeutschen Bistümer und Landeskirchen quasi eine Art Avantgarde seien und man zwischen Ostsee und Erzgebirge schon heute sehen könne, wie sich das kirchliche und religiöse Leben bald auch im Westen entwickeln werde. Stimmen Sie dieser These zu?

Pickel: Da bin ich eher skeptisch. Natürlich, die Problemlagen, mit denen sich die Bistümer und Landeskirchen in Ostdeutschland heute schon auseinandersetzen müssen – insbesondere die Herausforderung, mit wenig Geld wenige Gläubige auf einer weiten Fläche zu versorgen – werden in nicht allzu ferner Zukunft auch in Teilen Westdeutschlands auftreten. Und vielleicht können die Gläubigen im Westen dann von den Erfahrungen ihrer Brüder und Schwestern im Osten profitieren. Allerdings herrschen in beiden Landesteilen – wie eben schon beschrieben – gänzlich unterschiedliche Voraussetzungen. Die jahrzehntelange volkskirchliche Prägung in den alten Bundesländern erfordert und ermöglicht beim Umgang mit der Säkularisierung vermutlich ganz andere Lösungsansätze als dies in den nun schon sehr lange weitgehend entchristlichten neuen Bundesländern der Fall ist.

Frage: Wenn vom kirchlichen Leben im Osten die Rede ist, werden gerne einzelne "Leuchttürme" wie die boomende Propsteigemeinde in Leipzig ins Schaufenster gestellt. Haben Glaube und Kirche im Osten nur noch in den wenigen wachsenden Städten ein Chance? Und wenn ja: Was folgt daraus für die ländlichen Diasporagebiete?

Pickel: Aus empirischen Untersuchungen wissen wir, dass Religiosität und Kirchlichkeit im Osten heute am ehesten in den Großstädten und auf dem Land gedeihen. Das bedeutet, dass die Kirchen zwei sehr unterschiedliche Zielgruppen im Blick behalten und pflegen müssen – in den Großstädten ein eher intellektuelles Milieu, das sich meist auch stark für Kunst und Kultur interessiert, und auf dem Land ein oftmals noch stark vom Volksglauben geprägtes Milieu. Beide Gruppen sind für das kirchliche Leben in Ostdeutschland gleichermaßen wichtig, den vereinzelt geforderten Rückzug der Kirche aus dem ländlichen Raum hielte ich deshalb für einen schweren Fehler. Insofern warne ich auch davor, sich nur auf ein paar "Leuchttürme" zu konzentrieren. Viel wichtiger wäre es aus meiner Sicht, dass sich Kirche in den Städten und auf dem Land noch stärker als Ort sozialer Vergemeinschaftung versteht. Auch das zeigen Studien nämlich: Überall da, wo Pfarrgemeinden nah bei ihren Gläubigen sind und Ehrenamtliche geschickt eingebunden werden, florieren das kirchliche Leben häufig. Wo das allerdings nicht der Fall ist, verdunstet der letzte Rest an Glauben sehr schnell.

„Die Menschen in Ostdeutschland haben über Jahrzehnte gelernt, dass sie gut ohne Glaube und Kirche leben können; ihnen fehlt in dieser Hinsicht nichts.“

—  Zitat: Gert Pickel

Frage: Nach der Wiedervereinigung gab es in den Kirchen zunächst viele Hoffnungen hinsichtlich einer Renaissance des Christentums in Ostdeutschland. Doch eine "Bekehrungswelle" blieb in den vergangenen drei Jahrzehnten aus. Warum?

Pickel: Weil das religiöse Wurzelwerk nach 40 Jahren DDR weitgehend abgestorben war. In vielen ostdeutschen Familien waren die Menschen zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung bereits in zweiter oder dritter Generation konfessionslos; es hatte sich in weiten Teilen der Gesellschaft eine Kultur der Konfessionslosigkeit etabliert. Insofern gab es für eine Renaissance des Christentums nach 1990 kaum Anschlussmöglichkeiten. Die Menschen in Ostdeutschland haben über Jahrzehnte gelernt, dass sie gut ohne Glaube und Kirche leben können; ihnen fehlt in dieser Hinsicht nichts. Untersuchungen zeigen sehr deutlich, dass konfessionslose Menschen genauso glücklich sind wie gläubige Menschen.

Frage: Sie haben mit Blick auf die Situation in Ostdeutschland einmal vor einer "säkularen Schweigespirale" gewarnt. Wenn der Glaube kein Gesprächsthema mehr sei, weil er im Leben der Menschen keine Rolle mehr spiele, verstärke sich der Bedeutungsverlust von Religion immer mehr – bis der Glaube irgendwann ganz verschwinde. Was können die Kirchen gegen diese Entwicklung tun? Oder ist dieser "Kampf" längst verloren?

Pickel: Es dürfte in jedem Fall sehr schwer sein, gegen diese Entwicklung anzugehen. In weiten Teilen Ostdeutschlands herrscht die Überzeugung vor, dass Religion Privatsache ist und dementsprechend nicht in die Öffentlichkeit gehört. Das ist für das Christentum und besonders die Kirchen hoch problematisch. Wenn sie über die eigene Blase hinaus gehört werden wollen, müssen sich die Kirchen wie auch die Christen ja gerade öffentlich äußern – und das sollten sie meiner Ansicht nach auch unbedingt tun, damit der Glaube überhaupt im Gespräch bleibt. Interessant ist: Sobald das soziale Engagement der Kirchen zum Tragen kommt – also etwa ihr Einsatz für Flüchtlinge oder das Wirken von Caritas und Diakonie – löst das auch im Osten sehr positive Reaktionen aus. Da sagen bei entsprechenden Befragungen dann sogar konfessionslose Menschen, dass sie dieses soziale Engagement der Kirchen gut finden. Das ist also eine Stärken, die die Kirchen kommunikativ noch mehr in den Vordergrund stellen sollten. Ob die Menschen deswegen wieder Kirchenmitglieder werden, ist dann eine andere Frage; aber zumindest bekommen sie ein Verständnis davon, was das Christentum ausmacht. Darüber hinaus – und wie vorhin schon gesagt – sollten die Pfarrgemeinden zusehen, dass sie die Menschen vor Ort noch stärker in ihre Aktivitäten einbinden.

Von Steffen Zimmermann

Zur Person

Gert Pickel (*1963) ist seit 2009 Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte in den vergangenen Jahren waren die national und international vergleichende Religionssoziologie sowie die politische Soziologie und die politische Kulturforschung.