Florin: In Kirchengeschichte wird Teil der Wirklichkeit ausgeblendet
Vor allem Frauen im Alter zwischen 80 und 90 Jahren sollten von ihren Erfahrungen mit der Kirche in Sachen Macht berichten, regte die Religionsjournalistin Christiane Florin bei einem Vortrag der Initiative "Voices of Faith" am Wochenende an. Florin arbeitet beim Deutschlandfunk in der Redaktion "Religion und Gesellschaft" und hat in den vergangenen Jahren unter anderem die Bücher "Weiberaufstand" und "Trotzdem! Wie ich versuche, katholisch zu bleiben" veröffentlicht. Im Interview erzählt sie die Hintergründe ihrer Idee.
Frage: Frau Florin, wie sind Sie auf den Aspekt der Erinnerungen von sehr alten Frauen gekommen?
Florin: Macht ist in meinem Buch "Weiberaufstand" ein zentrales Thema. Ich habe das deswegen ins Zentrum gestellt, weil viele bestreiten, dass in der katholischen Kirche Macht ausgeübt wird – jedenfalls zu dem Zeitpunkt, als ich das Buch geschrieben habe. Mittlerweile ist das ein bisschen anders, Macht ist ja auch ein Thema des Synodalen Wegs. Entweder bei Lesungen oder danach sind ältere Frauen auf mich zugekommen und haben mir erzählt, was sie etwa im Beichtstuhl oder bei der Ehevorbereitung erlebt haben. Ebenso ging es um Gespräche mit Seelsorgern, wenn Frauen Gewalt erfahren haben, wenn etwa der Ehepartner sie geschlagen hat. Da dachte ich: Wo wird so etwas mal aufgeschrieben? Wo kommen die Frauen mal selbst zu Wort? So eine "oral history", eine Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts aus dem Blickwinkel der Basis – speziell der Frauen – habe ich nirgends gefunden. Das muss man aber irgendwann mal machen, sonst gibt es keine Zeitzeuginnen mehr.
Frage: Auf welche Erlebnisse von Frauen in Bezug auf Macht sind Sie gestoßen?
Florin: Das Besondere ist, dass Frauen das Erlebte zunächst für normal gehalten haben: wenn sie etwa im Beichtstuhl gefragt wurden, ob sie verhüten und wie viele Kinder sie noch möchten. Wenn sie in einer schrecklichen Ehe mit vielen Gewalterfahrungen lebten, mussten sie sich vom Pfarrer anhören, dass sie diese Ehe wie ein Kreuz tragen und ertragen müssten. Das ist den Frauen in dieser Situation nicht als Machtmissbrauch aufgefallen. Erst Jahrzehnte später erzählen sie so etwas dann in dem Duktus: "Was habe ich mir damals eigentlich alles bieten lassen!" Mir geht es um Bewusstseinsbildung, klar zu machen: Das ist nicht normal, das ist Machtmissbrauch – speziell gegenüber Frauen.
Frage: Wo steht Ihr Projekt in Bezug auf die Verbände, die sich ja schon für die Belange der Frauen einsetzen?
Florin: Was sind denn die Belange der Frauen? Das muss erst einmal eruiert werden. Aber die Verbände haben auch eine andere Aufgabe, sie bündeln Themen für eine gesellschaftliche oder politische Debatte. Was ich meine, ist eher eine Aufgabe für Historikerinnen und Historiker. In anderen Bereichen der Geschichtswissenschaft wird schon lange versucht, Alltagsgeschichte zu erzählen. Mir fehlt dieser Ansatz in der jüngeren Kirchengeschichte. Da wird viel etwa an das Zweite Vatikanische Konzil erinnert; Päpste, Kardinäle und Bischöfe bekommen ihre Biografien geschrieben oder verfassen sie gleich selbst. Frauen bilden die Mehrheit der Engagierten. Wo sind deren Erinnerungen, die dann Gegenstand wissenschaftlicher Analysen und Darstellungen sein können? Durch "oral history" hat man in anderen Geschichtsdisziplinen eine ganz neue empirische Basis gewinnen können. Dass auch Frauen gehört wurden, war ein großer Verdienst der Frauenbewegung: "Geschichten vom Herd" wurden nicht als belanglos abgetan, sondern als integraler Teil einer vielschichtigen Geschichtsauffassung festgehalten. Heute gibt es ganze Bibliotheken mit dieser auch aus der Sicht von Frauen erzählten Alltagsgeschichte.
Frage: Welche Form stellen Sie sich für diese "oral history" in der Kirche vor?
Florin: Ich stelle mir das zunächst einmal als Projekt vor, bei dem man zuhört und sammelt, ohne zu bewerten. Denn eine Erfahrung, die viele Frauen gemacht haben, ist, dass ihnen bei einem unguten Gefühl in einer Situation gesagt wurde: "Mit deinem Gefühl stimmt was nicht, das Problem bist du, nicht die Kirche oder die Macht des Pfarrers." Deshalb geht es zunächst um das Darstellen und Zuhören. Die Kirchengeschichte ist wie früher andere Bereiche der Geschichte auch von dem Gedanken geprägt, dass große Männer Geschichte machen, wie sie in Akten und Dokumenten niedergelegt wird. Über das Alltagsleben in der Kirche wird man aber in Akten des Vatikans oder der Bistümer höchstens in Randnotizen etwas finden. Da müssen andere Quellen erschlossen werden wie mündliche Quellen, also lange, aufgezeichnete Interviews, und Tagebuchaufzeichnungen.
Frage: Sehen Sie denn, dass sich in diesem Problemfeld in der Kirche von heute etwas bewegt? Schließlich hat Papst Franziskus in "Fratelli tutti" oder seinem Gebetsaufruf für den Oktober das Thema Frauen aktiv aufgenommen. Sehen Sie da eine Kehrtwende?
Florin: Nein. Ein Gebetsanliegen des Papstes heißt ja wieder, dass der Papst vorgibt, was man beten muss. Von Franziskus erwarte ich in Sachen Gleichberechtigung von Frauen gar nichts. Ich sehe auch nicht, dass "Fratelli tutti" für die Gleichberechtigung der Frauen in der Kirche irgendeinen Anstoß oder gar eine Kehrtwende markiert. Es geht nicht darum, vorzuschreiben, was andere zu beten haben, sondern ums Zuhören und darum, Fakten für eine andere Rezeption der Wirklichkeit zu schaffen. Bisher wird in der Kirchengeschichtsschreibung ein großer Teil dieser Wirklichkeit ausgeblendet. Wenn Frauen bisher erzählen dürfen, dann nur von ihrem Glauben oder ihren Bekehrungserlebnissen. Man spricht nicht gerne über Machtverhältnisse. Ich las kürzlich in einem autobiografisch inspirierten Roman, der vor 100 Jahren spielte, dass der Pfarrer die schönste Frau des Dorfes aufsuchte und ihr vorwarf, ihre Schönheit sei etwas Diabolisches, sie verderbe die Männer. Ich glaube, Millionen Katholikinnen wurde eingeredet, dass Weiblichkeit etwas per se Schuldhaftes, Gefährliches, Unreines ist – in Wirklichkeit, nicht im Roman.
Frage: Aber gehören solche Szenarien nicht der Vergangenheit an?
Florin: Ich war im vergangenen Jahr auf einer Tagung der Deutschen Bischofskonferenz, bei der es um Gewalt gegen Frauen im kirchlichen Kontext ging. Etwa ein Drittel der Frauen dort war um die 30 Jahre alt oder jünger. Sie konnten im geschützten Raum sprechen – dieser Schutz war für sie auch wichtig. Es wäre wichtig, so etwas aufzuzeichnen, damit gar nicht erst die Legende entsteht, dass solche Themen von gestern sind und es heute ganz anders ist. Viele Frauen lösen das Problem, indem sie sich von der Kirche entfernen. Viele Dinge kommen dann gar nicht mehr zur Sprache, weil die Frauen der Organisation den Rücken gekehrt haben. Aber Gewalt und Machtmissbrauch gegenüber Frauen sind keine Themen der Vergangenheit. Solche Geschichten müssen erzählt werden, sonst verschwinden sie.