Wie Papst Franziskus seine Meinung ändert
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Franziskus gibt gerne Interviews. Man kommt morgens ins Büro, öffnet frischen Muts das Intranet und findet den Text dort vor, Sperrfrist: keine, will heißen – Kaffee: später. Gelegentlich sind es ganze Papst-Interview-Bücher, die einem so nebenbei zur sofortigen Bearbeitung serviert werden. Kürzlich war es wieder einmal soweit. Franziskus hatte dreimal im Lauf mehrerer Monate den italienischen Gastro-Guru Carlo Petrini zum Gespräch empfangen, der hat das Ganze aufgezeichnet, abgetippt und verlegt (so macht man das). Petrini ist in Italien eine Ikone, ein Mann mit Charisma und dem Talent, Dinge neu zu denken und damit andere anzustecken. Als Kampfansage gegen "Fast Food" hat er in den 80ern "Slow Food" gegründet, eine internationale und weiter wachsende Bewegung, die gutes Essen fördert, Essen, das seine Zeit braucht und Leute um einen Tisch versammelt statt sie zu isolieren, nachhaltiges Essen. Das war für die 80er wegweisend und ist es heute noch mehr. Vom Ansatz her hat "Slow Food" Teile der Enzyklika "Laudato si" (2015) vorweggenommen.
Petrini ist Agnostiker und gilt, wie sich erahnen lässt, als links. Dergleichen hat Papst Franziskus selten gestört, und so hat er den Mann zur Amazonien-Synode im vergangenen Oktober eingeladen. Gern hätte ich da mal einen "Slow coffee" mit Petrini genippt, doch war er im Gegensatz zum Papst in diesen drei Wochen selten in der Synodenaula und noch seltener bei den Kaffeepausen.
Wie den Pontifex zum Öko wurde
Jedenfalls, in den Gesprächen mit Petrini hat der Papst etwas gesagt, das mich hat aufhorchen lassen. Franziskus hat davon erzählt, wie er zum Öko wurde. Begonnen hat das 2007 in Aparecida bei der lateinamerikanischen Bischofsversammlung, und Kardinal Bergoglio von Buenos Aires war für das Schlussdokument verantwortlich. "Lästig" habe er es gefunden, wie die brasilianischen Bischöfe dauernd von den Probleme in Amazonien redeten, wie insistent sie Umwelt- und soziale Fragen vermischten. "Ich habe diese Dringlichkeit nicht begriffen", bekennt Franziskus schlicht. Dann seien auch noch die Mitbrüder aus Kolumbien und Ecuador bei ihm auf der Matte gestanden mit dem Vorschlag, die Öko-Frage ins Schlussdokument zu heben. Aparecida war für Bergoglio der Ort seiner persönlichen ökologischen Konversion. Danach "hat sich meine Wahrnehmung des Umweltproblems komplett geändert", verriet er Petrini. Acht Jahre später, als Papst, schrieb Franziskus die Umwelt- und Sozialenzyklika "Laudato si". Und es war eine Randbegegnung mit einer Politikerin kurz vor Veröffentlichung des Lehrschreibens, die ihm erst klar machte, dass er etwas wirklich Wichtiges geschaffen hatte. In Straßburg wenige Minuten vor seiner Rede am EU-Parlament habe ihm die französische Umweltministerin Ségòlene Royal anvertraut: "Auf dieses Schreiben warten viele von uns. Es ist sehr wichtig. Es wird große Auswirkungen haben." Da erst sei bei ihm der Groschen gefallen.
Petrini, Aparecida, der Flash in Straßburg: Diese Episoden erzählen etwas darüber, wie Papst Franziskus seine Meinung ändert. Wie er lernt. Er lernt in Begegnung. Und er scheut sich nicht, seine Lernfortschritte vom Nullpunkt an zu schildern.
Beim Papst zu Hause
Beten, Feiern, Lesen und Lehren, so halten es alle Päpste. Sicher, alle Päpste empfangen zwischendurch Gäste, und seit Paul VI. reisen sie auch. Dennoch hat die persönliche Begegnung bei Papst Franziskus einen anderen Stellenwert als bei vielen seiner Vorgänger. Er braucht diesen Austausch mit einem Gegenüber, um zu lernen. Und er mag es informell, weil da der Funken eher überspringt.
Deshalb empfängt Franziskus in normalen Zeiten nicht nur Menschen zu den immer etwas steifen Privataudienzen, sondern bittet auch Leute zu sich nach Hause (und sofern sie das Gespräch nicht abtippen und verbreiten oder zumindest eine Headline twittern, erfahren wir nichts davon). Oder er schwärmt – seltener – selbst zu Besuchen aus, so wie damals an den Freitagen der Barmherzigkeit, als er Sterbende und Frühgeborene besuchte, Strafgefangene, Drogensüchtige auf Reha, Ex-Prostituierte, die freigekommen sind, Ex-Pfarrer, die geheiratet haben, und viele mehr. Corona war auch deshalb ein Kreuz für diesen Papst, weil ihm die Generalaudienzen in gewohnter Form fehlten, die kurzen Wortwechsel mit ein paar Dutzend Leuten wie du und ich.
Was genau gibt ihm das? Warum lebt er bei Begegnungen auf? Was ist es, was ein Gespräch zu einem schöpferischen Vorgang macht, bei dem etwas Neues entsteht? Genau darüber hat Franziskus unlängst in einem Buchbeitrag nachgedacht. Ein schöpferisches Gespräch, schrieb der Papst, umfasst viel mehr als den Austausch von Informationen. So wie Jesus, der den reichen Jüngling mit einem liebevollen Blick ansah, setzt eine inspirierende Begegnung "eine Dynamik in Kraft, die es schafft, Vorbedingungen aufzubrechen und zu verändern – in anderen Worten, sich der Bekehrung zu öffnen". Christentum ist kein Schriftstück, sondern Begegnung mit Christus und Begegnung mit allen Brüdern und Schwestern. Und Begegnung ermöglicht Bekehrung. Schreibt Franziskus.
Bergoglio war über 70, als er nach Aparecida reiste und dort durch Lästigfinden, gefolgt von Zuhören, Beten und Unterscheiden, seine Meinung änderte und etwas Wichtiges begriff, nämlich die Tragweite der ökologischen Frage für die Zukunft der Erde und aller Geschöpfe Gottes. Im vorgerückten Alter schwenkte er auf öko um, nein: integrierte öko in sozial und katholisch. Papst Franziskus ist – so ganz nebenbei – ein Modell dafür, dass Lernen lebenslang geht, sofern man sich Begegnungen mit Anderen aussetzt. Und mögen sie bisweilen auch mühsam sein.