Das Einhorn: Mythisches Wesen zwischen Deko-Trend und Christus-Symbol
Sei es als Verzierung auf Schulranzen, Deko für den Kindergeburtstag oder beliebtes Werbeobjekt: Einhörner sind in der Gesellschaft derzeit omnipräsent. Neben Lama, Flamingo und Faultier zählt das an seinem markanten Horn zu erkennende Fabelwesen seit einigen Jahren zu den Trendtieren. Es ist dermaßen beliebt, dass ihm mit dem 1. November sogar ein eigener "Internationaler Einhorntag" gewidmet wurde. Zudem finden rosafarbene Smoothies als "Einhornkotze" reißenden Absatz und ein deutsches Eisenbahnunternehmen erlaubte in seinen Beförderungsbedingungen die kostenlose Mitnahme von Einhörnern – selbstverständlich nur, wenn dadurch die Sicherheit von Mitreisenden nicht gefährdet werde.
Laut Experten zeigte dieser Werbegag als Teil des allgemeinen Einhorn-Hypes, dass sich in der Gesellschaft eine Hinwendung zum Eskapismus, also der Flucht vor der Wirklichkeit ausgebreitet habe. Das ist nicht von der Hand zu weisen, denn die meist als zuckersüße Tiere dargestellten putzigen Wesen zwischen Pferd und Nashorn sind bereits in der Antike aus Sagen, Legenden und Märchen bekannt. Dass die Beschäftigung mit Einhörnern jedoch mehr ausdrückt als den Wunsch nach einer heilen und konfliktfreien Welt, zeigt ein Blick auf die Geschichte des Fabelwesens als christliches Symbol.
Bereits in der Bibel wird das Einhorn erwähnt
Bereits in der Bibel wird das Einhorn erwähnt, wenn man bestimmten Übersetzungen, wie etwa der von Martin Luther Glauben schenken will. Während im hebräischen Original alttestamentlicher Textstellen lediglich von einem kräftigen wilden Tier die Rede ist, übersetzt die berühmte Septuaginta, eine Übertragung ins Griechische des ersten Teils der Bibel aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert, das entsprechende Wort mit dem Begriff Einhorn. Die lateinischen Übersetzungen greifen diese Möglichkeit auf. Gemeint war mit dieser ungenauen Interpretation wohl Wildstier oder Auerochse, weshalb in heutigen Bibelübersetzungen keine Einhörner mehr zu finden sind.
Ein Grund für die irrtümliche Übersetzung könnten babylonische Reliefs und Wanddarstellungen von Ochsen mit nur einem Horn sein, wie sie heute noch etwa im Berliner Pergamonmuseum zu bestaunen sind. Einhörner waren auch den alten Griechen und Römern bekannt, jedoch nicht als mythologisches Wesen. Vielmehr erwähnen antike Denker und Schriftsteller, wie Aristoteles und Plinius der Ältere, explizit Tiere mit nur einem Horn. Auch Reiseberichte sprechen von Einhörnern, wobei damit jedoch wohl Nashörner gemeint sein könnten. Über den Physiologus, ein in Griechisch verfasstes frühchristliches Volksbuch aus dem 2. bis 4. Jahrhundert, hält das Einhorn schließlich Einzug in den Glauben der Kirche.
Der Autor der Naturlehre, die in 48 Kapiteln Tiere, Pflanzen sowie Steine beschreibt und sie allegorisch im Sinne des Christentums deutet, ist nicht bekannt. Da die zahlreichen Übersetzungen des Physiologus im Mittelalter weite Verbreitung fanden und dem Büchlein große Popularität bescherten, wurden jedoch Salomo oder Aristoteles als Verfasser ins Spiel gebracht. Entstanden ist das Werk, dessen Titel mit "Naturforscher" oder "Die Beschaffenheit der natürlichen Dinge zu untersuchen" übersetzt werden könnte, wohl in Alexandrien im heutigen Ägypten. Bis zu 30 weitere Abschnitte, die mit der Zeit zum Physiologus hinzugefügt wurden, werden dem Kirchenvater Basilius dem Großen zugeschrieben.
Das Büchlein, in dem auch andere Tiere – vom mythischen Phönix bis zum gewöhnlichen Hasen – behandelt werden, scheint sehr genau zu wissen, wie ein Einhorn aussieht: "Es ist ein kleines Tier wie ein Böckchen, friedlich ist es und ganz sanft, doch der Jäger kann ihm nicht nahe kommen, weil es gar so stark ist", heißt es im 22. Kapitel der Schrift, das dem mythischen Wesen gewidmet ist. Man könne ein Einhorn jedoch fangen, indem man ihm "eine reine Jungfrau" in den Weg stelle. "Es springt ihr in den Schoß, und sie streichelt das Tier und führt es in den Palast des Königs." Unter Bezug auf die Fehlübersetzungen der hebräischen Bibel deutet der Physiologus das Einhorn als Symbol für die "Person des Heilands". Denn Jesus Christus habe "aufgerichtet ein Horn im Hause Davids, unseres Vaters, und ein Horn des Heils ist er uns geworden". Engel und andere Mächte hätten seiner nicht Herr werden können, da er "nahm Wohnung im Leibe der wahrhaftigen reinen Jungfrau Maria".
Sogar im Petersdom gibt es Darstellungen
Aus dieser Deutung heraus entwickelte sich das künstlerische Motiv der "Mythischen Jagd", die besonders zwischen 1400 und 1550 populär war. Auf Altarbildern, Teppichen und in weiteren Darstellungen wurde abgebildet, wie der Erzengel Gabriel als Jäger vergeblich versucht, das Christus repräsentierende Einhorn zu jagen. Es kann schließlich nur von der Jungfrau Maria gezähmt werden, die es liebkosend in ihre Arme schließt. Auf dem Hintergrund des Physiologus können diese Darstellungen als Variationen der Verkündigung Mariens verstanden werden. Manchmal wird das Einhorn zudem als Sinnbild der Reinheit und Keuschheit gezeigt. Diese Interpretation war im Mittelalter und der Frühen Neuzeit derart weit verbreitet – wie auch der Glaube an die Existenz von Einhörnern überhaupt –, dass sich noch heute in vielen Kirchen, wie sogar dem Petersdom in Rom, Darstellungen des Fabelwesens finden.
Heute ist diese Populärtheologie des Spätmittelalters vielen Menschen nicht mehr bekannt. Das Einhorn wird nicht als Christus-Symbol verstanden, sondern ist lediglich auf historischen Darstellungen, in der Heraldik oder der Fantasy-Literatur präsent. Der seit einigen Jahren anhaltende Einhorn-Hype könnte jedoch ein Anknüpfungspunkt für die Kirche sein, um auf ungewöhnliche Weise einen kulturellen Trend für die Verkündigung zu nutzen. Ganz nach dem Motto: Das Einhorn steht nicht nur für die Flucht in eine Fantasiewelt, sondern ist ein Zeichen für die Menschwerdung Jesu und damit die Zusage Gottes zur menschlichen Realität – auch dann, wenn sie nicht knallbunt und zuckersüß ist.