Islamwissenschaftler: Für Terroristen ist Corona ein idealer Nährboden
Der Lehrer Samuel Paty wird in der Nähe von Paris enthauptet, nachdem er seinen Schülern im Unterricht Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte. Bei einem Messerangriff in einer Kirche in Nizza werden drei Menschen getötet, vor dem Redaktionsgebäude des Satire-Magazins "Charlie Hebdo" verletzt ein Attentäter zwei Menschen mit einem Messer, am Wochenende wird in Lyon auf einen orthodoxen Geistlichen geschossen und erst am Montag eröffnen in Wien Islamisten das Feuer auf Fußgänger. Der Osnabrücker Islamwissenschaftler Michael Kiefer beobachtet Radikalisierungsprozesse schon seit Jahren. Er vermutet: Der Terror hängt mit Corona zusammen.
Frage: Herr Kiefer, es war einige Zeit relativ ruhig. Warum passieren auf einmal wieder Anschläge?
Kiefer: Jetzt haben wir eine Verdichtung: Mehrere Anschläge in kurzer Folge. Über die Gründe dafür kann ich natürlich nur spekulieren, ich halte aber zwei Szenarien für denkbar: Es könnte sich etwa um sogenannte Resonanzanschläge handeln. Irgendjemand verübt also einen Anschlag und bekommt dadurch viel mediale Aufmerksamkeit, danach legt jemand anderes nach und verstärkt die Aufmerksamkeit dadurch. Das wiederum ermuntert andere. So reiht sich das eine an das andere.
Frage: Welches Szenario ist noch möglich?
Kiefer: Das der Orchestrierung. Das heißt, dass wir es hier nicht mit einer zufälligen Häufung zu tun haben, sondern dass Kräfte im Hintergrund systematisch dazu aufrufen und ihre Anhängerschaft ermuntern. Wir wissen, dass es noch Kader der Terrormiliz IS gibt, die nicht in Haft sitzen, sondern immer noch terroristisch aktiv sind. Die warten auf eine günstige Gelegenheit, wieder loszulegen. Da spielt auch die Corona-Pandemie eine Rolle, denn sie hat in den europäischen Gesellschaften bereits zu einer tiefen Krise geführt und für Spannungen gesorgt. Das sieht man unter anderem an der schwindenden Akzeptanz der Corona-Maßnahmen – in Italien gab es deswegen sogar Ausschreitungen. Alle Länder stecken also in einer extrem schwierigen Situation. Wer als Terrorist erfolgreich ein Konzept der Spannung verfolgen will, findet in der Corona-Krise einen idealen Nährboden. Belegen kann ich das nicht. Aber ich glaube da gerade nicht an einen Zufall.
Frage: Europa ist im Hinblick auf Terrorismus in den vergangenen Jahren schon etwas abgestumpft. Kann diese Orchestrierung dann trotzdem erfolgreich sein?
Kiefer: In Publikationen des IS wurden für dieses Konzept schon vor einigen Jahren Szenarien entworfen. Es ging da um eine nachhaltige Destabilisierung der Gesellschaft und darum, vorhandene Krisen zu vertiefen. Klar ist Europa etwas abgestumpft und hat sich an Terror gewöhnt, aber wir treffen bei den jüngsten Anschlägen schon auf eine neue Qualität von Brutalität, etwa wenn Menschen mit einem Messer enthauptet werden. Diese Bestialität hat das bislang Gewohnte überschritten. Wenn man dann etwa bedenkt, wie schwer Frankreich von der Corona-Pandemie getroffen wurde und dann auf diese beiden Anschläge reagiert hat, kann man schon sagen: Die Terror-Kader haben mit recht geringen Mitteln ihre Ziele erreicht. Ein Höchstmaß an Unfrieden und die Vertiefung der Krise ist gelungen. Dazu hat aber sicherlich auch die besondere Situation in Frankreich beigetragen, in dessen Banlieues um die großen Städte viele Menschen maghrebinischen Ursprungs ohne jegliche Perspektive leben.
Frage: Was muss beispielsweise die Gesellschaft in Deutschland tun, um nicht in diesen Mechanismus zu verfallen?
Kiefer: Das eine ist, mit klarem Kopf diese Anschläge zu analysieren und nach Handlungsmöglichkeiten zu suchen. Das sind zunächst polizeiliche und geheimdienstliche Maßnahmen. Attentäter kommen aus dem Ausland in westeuropäische Staaten und verüben dort nach kurzer Zeit Anschläge – solche Personen müssen also frühzeitig identifiziert und mit den entsprechenden Maßnahmen aus dem Verkehr gezogen werden. Langfristig müssen wir uns Gedanken über die Prävention machen: Die Faktoren, wegen denen Menschen radikal werden, müssen wir soweit wie möglich minimieren und bei Radikalisierungsprozessen frühzeitig intervenieren und diese Prozesse abbrechen. Auf lange Sicht ist das also eine Aufgabe für Sozialarbeiter und Erzieher, die viel Zeit brauchen. Schnelle Erfolge sind da nicht zu erwarten. Wichtig ist aber auch, dass man Muslime nicht unter Generalverdacht stellt oder sie in Mithaftung nimmt – das würde zu einer Eskalation führen. Die große Mehrheit der Muslime lehnt terroristische Gewalt genauso entschieden ab wie andere gesellschaftliche Gruppen auch.