Versagen in der Krise oder Reinfall auf "epischen Schmeichler"?

Nach McCarrick-Bericht: Kritik an Papst Johannes Paul II.

Veröffentlicht am 11.11.2020 um 18:09 Uhr – Lesedauer: 
Nach McCarrick-Bericht: Kritik an Papst Johannes Paul II.
Bild: © KNA-Bild

Washington ‐ Der McCarrick-Bericht bestätigt die schlimmsten Befürchtungen von US-Katholiken: Das Totschweigen sexuellen Missbrauchs hatte Methode. Unmittelbar vor ihrer Herbstkonferenz kommen die US-Bischöfe in Erklärungsnot – und auch Papst Johannes Paul II. steht im Fokus der Kritik.

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John Allen vergleicht das lange Warten auf den McCarrick-Bericht des Vatikan mit den Wahlen in den USA. Beides habe "viel zu lange gedauert", klagt der Chefredakteur des unabhängigen katholischen Online-Portals Crux. Das eine sei ein Stresstest für die Demokratie, das andere für die Kirche in den USA.

Die leidenschaftlichen Reaktionen auf den Bericht des Vatikan über den nach glaubwürdigen Vorwürfen wegen sexueller Übergriffe geschassten Ex-Kardinal Theodore McCarrick reichen von Trauer bis Wut. Auch Lob ist dabei. Für Missbrauchsopfer ist das Dokument aus Rom ein Meilenstein. Aber sie warnen davor, Papst Johannes Paul II. alleine zum Sündenbock zu machen, weil er "Onkel Ted" zum Erzbischof von Washington ernannt und dabei alle Warnungen in den Wind geschlagen hatte. Was drei Päpste über das einst illustre Gesicht der US-Kirche wussten und geschehen ließen, ist die eine Sprengkraft des Reports. Die andere ist der Umgang der Ortsbischöfe mit dem Wissen über das Fehlverhalten des einflussreichen Kardinals.

"Notwendigkeit, Buße zu tun"

Am Dienstag hatte der Vatikan einen rund 450-seitigen Bericht der Kurienleitung über den Aufstieg des heute 90-jährigen McCarrick vorgelegt, der zu den einflussreichsten US-amerikanischen Geistlichen in der katholischen Kirche gehörte. Nach Vorwürfen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen wurde McCarrick 2018 aus dem Kardinalsstand und 2019 aus dem Klerikerstand entlassen.

Der Report unterstreiche "die Notwendigkeit, Buße zu tun", sagte der Vorsitzende der US-Bischofskonferenz, Erzbischof Jose Gomez, in einer ersten Reaktion nur Minuten nach der Veröffentlichung des Dokuments – so schnell wie selten zuvor. Als "beispiellos" und "substanziell" bezeichnete Kardinal Joseph Tobin das umfangreiche Konvolut. Der Report sei "wichtig, schwierig und notwendig", so der designierte Kardinal Wilton Gregory von Washington.

New Yorks Kardinal Timothy Dolan drückte in seiner ersten Reaktion "tiefe und aufrichtige Trauer" gegenüber allen aus, die sexuellen Missbrauch erlebt hätten. Sie alle zeigen sich demütig und dennoch bleibt die Frage: Wie konnte McCarrick jahrzehntelang in der US-Hierarchie aufsteigen – mit all den Mitwissern um ihn herum?

Papst Johannes Paul II. kniet im Petersdom
Bild: ©KNA/KNA-Bild

Ist Papst Johannes Paul II. auf die "pathologische Persönlichkeit" von Theodore McCarrick hereingefallen oder hat er versagt, der Krise zu begegnen? Nach dem McCarrick-Bericht wird darüber diskutiert.

Der Bericht ist aus Sicht Anne Barrett Doyles von der Organisation Bishop-Accountability "ein schlagkräftiges Argument" gegen das apostolische Schreiben "Vos estis lux mundi" von 2019, das Untersuchungen zu sexuellem Missbrauch unter kirchliche Selbstkontrolle stellt. Doyle verlangt deshalb weitere Aufarbeitung. "Ohne externe Aufsicht gibt es keine Rechenschaftspflicht."

Für George Weigel, der eine Biografie über Papst Johannes Paul II. (1978-2005) geschrieben hat, ist der Heilige auf die "pathologische Persönlichkeit" des heute 90-jährigen Ex-Kardinals hereingefallen. Dessen Fähigkeit, "seine Umgebung zu belügen" sei das "Markenzeichen" seiner Karriere gewesen. Der Papst habe seinen Missbrauchsdementis geglaubt und ihn trotz zahlreicher Warnungen zum Erzbischof von Washington erhoben. Schuld daran, so der konservative Theologe, seien auch mehrere US-Bischöfe, die den Pontifex mit "ungenauen Informationen" belieferten.

Michael Sean Winters vom "National Catholic Reporter" lässt diese Entschuldigung nicht gelten. Der Bericht bestätige "das Versagen Johannes Pauls, dieser Krise zu begegnen". Wer den polnischen Papst "Johannes Paul der Große" nenne, sei ein "Narr". Mildernde Umstände für den heiligen Papst lehnt Winters ab. Zumal dieser schon früh Warnsignale erhalten habe.

"Epischer Schmeichler" und erfolgreicher Spendensammler

Die Rückendeckung in der Hierarchie könnte nach Ansicht von Analysten der Gabe McCarricks geschuldet sein, große Spendenbeträge für die Kirche zu generieren. Zu glauben, dass eine solche Fähigkeit ihm in Rom kein Ansehen verschaffte, "widerspricht dem gesunden Menschenverstand". Die "Washington Post" bringt es so auf den Punkt. Der "epische Schmeichler" habe sich als erfolgreicher Spendensammler unangreifbar gemacht.

Das Missbrauchsopfer Robert Ciolek, der 2019 den Kardinal von Washington, Donald Wuerl, wegen dessen Rolle bei der Verharmlosung der Vorwürfe gegen McCarrick mit zu Fall brachte, zeigte sich dankbar für den Bericht. Enttäuscht bleibt der ehemalige Priester über den Befund, wie wenig sich die Kirchenführer in der Vergangenheit für die Substanz der Vorwürfe interessierten. "Hätte das nicht wichtig sein müssen für eine Kirche, die moralische Führung beansprucht?"

Diese Frage wird kommende Woche gewiss auch die US-Bischöfe beschäftigen, die sich virtuell zu ihrer Herbsttagung treffen. Der Vatikan-Bericht gibt ihnen Anlass für einen Gewissensspiegel.

Von Bernd Tenhage (KNA)