Prozess nach Vorfällen im "Preseminario San Pio X" für angehende Priester

Rektor von Vatikan-Seminar: Habe nichts vom Missbrauch gewusst

Veröffentlicht am 20.11.2020 um 15:53 Uhr – Lesedauer: 

Vatikanstadt ‐ Ihm wird vorgeworfen, von Missbrauch im vatikanischen "Preseminario San Pio X" gewusst und dessen Aufklärung behindert zu haben. Doch der ehemalige Rektor weist die Vorwürfe zurück – und beschuldigt stattdessen sogar ein mutmaßliches Opfer.

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Der ehemalige Rektor des "Preseminario San Pio X" für angehende Priester im Vatikan, Enrico Radice, hat bestritten, jemals von Anschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs gewusst zu haben. "Niemand hat je mit mir über Missbrauch gesprochen, weder die Schülerinnen und Schüler, noch die Lehrerinnen und Lehrer, noch die Eltern", sagte der 71-jährige italienische Priester während einer Anhörung durch das Strafgericht des Vatikanstaats am Donnerstag. Radice beschuldigte laut Medienberichten stattdessen ein mutmaßliches Opfer und einen weiteren Zeugen, sich einen Missbrauch aus "wirtschaftlichen Interessen" ausgedacht zu haben.

Dem Ex-Rektor wird vorgeworfen, den heute 28-jährigen Prozess-Hauptangeklagten geschützt und trotz Missbrauchs-Vorwürfen dessen spätere Weihe zum Priester gefördert zu haben. Auch Ermittlungen soll Radice behindert zu haben. Der junge mutmaßliche Täter soll zwischen 2007 und 2012 einen ein Jahr jüngeren Mitschüler mehrfach bedroht und zu sexuellen Handlungen gezwungen zu haben. Er und sein Opfer waren zum Beginn der fraglichen Zeit minderjährig.

Während des Verhörs ist den Berichten zufolge bekannt geworden, dass das Opfer die Taten zwischen 2009 und 2010 gegenüber dem Rektor selbst gemeldet haben soll. Der Priester habe jedoch aggressiv reagiert und ihn bedrängt, sodass die Misshandlungen weitergingen. Radice bestreitet das. Die Anhörung war die dritte im Prozess. Die nächste Anhörung soll am 4. Februar stattfinden. Dann soll der 28-jährige Hauptbeschuldigte befragt werden.

Vorwürfe wurden 2017 öffentlich gemacht

Vorwürfe des Missbrauchs unter Seminaristen des "Preseminario San Pio X" hatte der italienische Autor Gianluigi Nuzzi bereits 2017 öffentlich gemacht. Kurz darauf teilte der Vatikan mit, zu den Vorwürfen seien Ermittlungen wiederaufgenommen worden. Bereits 2013 habe es nach dem Eingang anonymer wie nicht anonymer Hinweise Untersuchungen zu dem Fall gegeben.

Damals seien keine "entsprechenden Bestätigungen" gefunden worden. Im vergangenen November warfen drei weitere ehemalige Vatikan-Messdiener Priestern sexuelle Belästigung vor. Während ihrer Zeit im Seminar in den 1980er- und 1990er-Jahren hätten sich mit der Aufsicht betraute Kleriker unangemessen verhalten, sagten die Betroffenen damals im italienischen Fernsehen. Der jetzt begonnene Prozess war nach Verlesung der Anklagepunkte zunächst vertagt worden.

Das "Preseminario San Pio X" ist ein 1956 gegründetes Konvikt mit Sitz im Vatikan, unweit des Gästehauses Santa Marta. Es nimmt Mittelschüler auf, die am Beruf des Priesters interessiert sind. Laut eigenen Angaben wurden mehr als 80 Schüler der Einrichtung später Priester oder Ordensleute. Die Schüler werden als Messdiener im Petersdom eingesetzt. (cbr)