23 Betroffene berichten in neuem Buch – Herausgeberin im katholisch.de-Interview

Gehirnwäsche und Psychoterror: Missbrauch an Frauen in der Kirche

Veröffentlicht am 25.11.2020 um 00:01 Uhr – Von Gabriele Höfling – Lesedauer: 

Bonn ‐ Lag bei der Missbrauchs-Aufarbeitung bislang der Fokus auf Vergehen an Minderjährigen, erheben nun 23 Frauen in einem Buch ihre Stimme. Im katholisch.de-Interview sagt Mitherausgeberin Barbara Haslbeck, wie perfide Kleriker ihre Macht ausnutzten.

  • Teilen:

Auch erwachsene Frauen sind in der katholischen Kirche Opfer von Missbrauch. Davon zeugen 23 persönliche Berichte im Buch "Erzählen als Widerstand", das an diesem Mittwoch erscheint. Katholisch.de sprach mit Mitherausgeberin Barbara Haslbeck. Sie sagt unter anderem, welche Geschichte sie besonders berührt.

Frage: Frau Haslbeck, wer sind die betroffenen Frauen?

Haslbeck: Da gibt es keine Schubladen. Von 23 Berichten in unserem Buch kommen neun von Ordensfrauen. Die anderen Frauen wurden in unterschiedlichen Kontexten missbraucht: als hauptamtliche Seelsorgerin, als Angestellte oder Sekretärin, andere sind ehrenamtlich in der Kirche tätig. Es sind Frauen mit allen Bildungshintergründen, in jedem Lebensalter, in allen Lebenssituationen. Die Schlussfolgerung aus den Berichten ist: Es kann jede Frau treffen. Es sind ganz "normale" Frauen.

Frage: In welchem Verhältnis stehen geistlicher und sexueller Missbrauch?

Haslbeck: Spiritueller und sexueller Missbrauch sind eng miteinander verwoben. Spiritueller Missbrauch ist oft die Grooming-Strategie, also die Anbahnungs-Strategie der Täter, um den sexuellen Missbrauch vorzubereiten und zu rechtfertigen. Zum Beispiel sagte ein geistlicher Begleiter zu einer Novizin, da sie als Kind schlechte Erfahrungen mit Nähe gemacht habe, solle sie jetzt "Übungen zu menschlicher Nähe" machen. So könne geprüft werden, ob sie zum Ordensleben überhaupt fähig ist. Diese "Übungen" baut der Täter immer mehr aus, bis es zum erzwungenen Geschlechtsverkehr kommt.  Ein Satz, den viele Betroffene zu hören bekommen, ist folgender: "Was ich mit dir tue, soll dir die Liebe Gottes zeigen". So wird der sexuelle Missbrauch spirituell legitimiert.

Barbara Haslbeck im Portrait
Bild: ©privat

Barbara Haslbeck ist theologische Referentin in der Fort- und Weiterbildung Freising. Sie gehört zum Trägerteam der Initiative "GottesSuche – Glaube nach Gewalterfahrungen". Einer ihrer Arbeitsschwerpunkte ist Seelsorge nach Missbrauch.

Frage: Welche Ursachen hat der Missbrauch an Frauen?

Haslbeck: Die Voraussetzung ist zuerst ein Machtungleichgewicht. Erwachsene Frauen erleben Missbrauch oft in Seelsorge-Beziehungen. Und das bedeutet, dass eine Person gegenüber der anderen am längeren Hebel sitzt. Die abhängige Person bringt dem Täter oft ein riesiges Vertrauen entgegen, sie ist manipulierbar. Das nutzt er, um sie zu einem Objekt zu machen, mit dem er alles tun kann, was er will. Bei Klerikern kommt der Machtüberschuss gegenüber Frauen noch einmal mehr zum Tragen. Die Frauen spüren: "Ich bin gut, wenn ich diene und nicht zu laut 'Ich' sage." Es geht bei sexuellem Missbrauch oft nicht zuerst um Triebbefriedigung, sondern um narzisstische Bedürfnisse, einen Menschen bis zur Willenlosigkeit zu manipulieren. Betroffene beschreiben , dass sie nicht nur im Sexuellen benutzt werden, sondern auch auf anderen Ebenen, zum Beispiel finanziell oder als Arbeitskraft. Manche haben Mitleid mit dem Täter,  der sie eng an sich bindet und ihnen alle seine Probleme anvertraut. Sie meinen dann, sie seien die einzigen, die diesen Mann retten können und fühlen sich ihm verpflichtet. Es gibt aber durchaus auch Frauen, die andere Frauen spirituell manipulieren und missbrauchen.

Frage: Hören erwachsene Frauen oft das Argument, sie hätten ja nein sagen können?

Haslbeck: Viele haben große Angst, dass ihnen eine Mitschuld am Missbrauch zugeschoben wird. Sie fragen sich selbst unzählige Male, warum konnte ich nicht nein sagen, warum bin ich da nicht sofort herausgekommen? Aber wie gesagt: der Missbrauch bahnt sich langsam an, passiert nicht von jetzt auf gleich. Die Täterinnen und Täter bauen ein Vertrauensverhältnis auf, machen sich unentbehrlich. Sie sagen dem Opfer, es sei die wichtigste Person im Leben, und es beginnt, das zu glauben und wird abhängig. Dann erst geschehen die Übergriffe. Die Betroffenen spüren schon, dass ihnen das nicht guttut, aber ihre Wahrnehmung ist so außer Kraft gesetzt, dass sie das nicht mehr einordnen können. In Gemeinschaften werden Mitglieder gegeneinander ausgespielt, wer aufmuckt, wird gemobbt und isoliert. Und auf einmal ist da niemand mehr, dem die Betroffene sagen kann, was mit ihr geschieht.

Frage: Was lässt sich nach der Arbeit an dem Buch erahnen, um welche Größenordnung geht es beim Missbrauch an erwachsenen Frauen?

Haslbeck: Ich bin davon überzeugt, dass die Geschichten in unserem Buch nur die Spitze des Eisbergs sind. Viele Frauen haben sich bisher überhaupt nicht getraut, etwas zu sagen. Es gibt sicher eine Dunkelziffer. Bei sexuellem Missbrauch von Kindern liegt sie bei etwa 1:20. Was den Missbrauch von erwachsenen Frauen in der Kirche angeht, lässt sich dazu noch nichts sagen. Wir fangen damit gerade erst an. Es geht erstmal darum, das Phänomen überhaupt ansprechbar und wahrnehmbar zu machen. Es gibt aber noch keinerlei empirische Ergebnisse.

Frage: Welche Erfahrungen haben Frauen in der Vergangenheit gemacht, die von Missbrauch berichtet haben? Bekamen sie Verständnis?

Haslbeck: Frauen, die von ihrem Missbrauch erzählen wollen, brauchen oft sehr viele Anläufe. Etwa weil das Gegenüber keine Antennen dafür hat, weil es gar nicht hören will, was da an Unsagbarem gesagt wird. Betroffene finden niemanden, der sich dafür zuständig fühlt. Ein Beitrag in unserem Buch ist mit genau diesem Satz überschrieben: "Dafür sind wir nicht zuständig." In der Kirche gibt es Ansprechpartner für sexuellen Missbrauch im Kindesalter, aber nicht für Missbrauch als Erwachsene. Es ist auch kirchenrechtlich schwierig, spirituellen Missbrauch an erwachsenen Frauen überhaupt zu erfassen. Hier bleiben viele Betroffene auf der Strecke.

Frage: Welche Rückmeldungen brauchen Betroffene in persönlichen Gesprächen?

Haslbeck: Betroffene brauchen ein Gegenüber, das das, was es hört, ernst nimmt und hilft, es überhaupt in Worte zu fassen. Die Wahrnehmung der Betroffenen ist schließlich sehr vernebelt worden. Die meisten Frauen haben nicht zwei, drei schlechte Erfahrungen gemacht. Sie haben sich viele Jahre einer Gemeinschaft oder Pfarrgemeinde mit Leib und Leben buchstäblich "hergegeben". Wer da heraustritt, braucht längere Gesprächs- und Erkenntnisprozesse. Manche Frauen suchen sich Begleitung, um die toxischen Gedanken, die in sie hineingesetzt worden sind, wieder zu entgiften. Sie sind mit Bibelstellen zum Thema Demut oder Gehorsam regelrecht vergiftet worden. Die Täter haben zu ihnen gesagt, was der Wille Gottes für sie sei, und dem mussten sie folgen. Manche wenden sich deshalb von der Kirche ab. Andere wiederum beharren, dass sie auch ein Recht auf diese Bibel haben. Sie berufen sich auf den Satz aus dem Johannesevangelium: "Die Wahrheit wird euch frei machen." Und wenn sie die Wahrheit sagen, hat das für sie tatsächlich eine befreiende Wirkung.

Frage: Sie arbeiten in der Seelsorge nach Missbräuchen. Wie gehen Sie in diesen Fällen vor?

Haslbeck: Wir suchen nach dem, was an "Heilem" in der Persönlichkeit da ist. Eine Frau sagte, das wäre wie bei einer Babuschka-Puppe: In der Aufarbeitung des Missbrauchs habe sie Schale für Schale ihres Ichs weggenommen und hatte Angst, dass nichts mehr übrigbleibt. Am Ende ist aber doch so ein heiler, fester Kern übriggeblieben. In jeder Frau steckt dieser heile, unantastbare Kern, auch nach Missbrauchserfahungen. Der Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers sagte neulich, geistliche Begleitung müsse Menschen groß machen und nicht klein. Das ist die Herausforderung: Menschen so zu begleiten, dass sie sich in ihrem Wert und ihrer Größe sehen können.

Frage: Wie sieht die Aufarbeitung der Frauen praktisch aus?

Haslbeck: Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt Frauen, die den Missbrauch in einer Psychotherapie aufarbeiten, es gibt solche, die das mit sich selbst ausmachen, zum Beispiel in einem Tagebuch. Es gibt welche, die sich im Austausch mit anderen Betroffenen stärken, es gibt solche, die an die Öffentlichkeit gehen, weil sie wollen, dass aufgedeckt wird, was war. Es gibt da so viele Wege, wie es Frauen gibt.

Symbolbild mit einem Buchcover
Bild: ©Aschendorff/Fotolia/Carlo Süßmilch

Das Buchcover von "Erzählen als Widerstand".

Frage: Wie soll es nach der Veröffentlichung des Buches nun weitergehen – gibt es Kontakte zu Bistümern, zur Bischofskonferenz oder sonstigen Verantwortlichen?

Haslbeck: Ich wünsche mir, dass sich nach diesem Buch mehr Leute zuständig fühlen für Missbrauch an erwachsenen Frauen in der Kirche und dass andere aus der Deckung gehen und sagen "Me too". Aus den bisherigen Rückmeldungen habe ich schon gemerkt, dass es da brodelt. Und ich wünsche mir, dass das Phänomen in der Öffentlichkeit so groß wird, dass es nicht mehr als Einzelfälle abgewimmelt werden kann.

Frage: Welche Geschichte hat sie besonders berührt?

Haslbeck: Es gibt tatsächlich eine Geschichte, die mich im Moment angesichts der Diskussion um spirituellen Missbrauch besonders beschäftigt: Eine junge Frau wird nach dem Abitur von einer geistlichen Gemeinschaft umgarnt. Sie bekommt Besuche, sie wird eingeladen und dann nimmt sie den Weg in die Gemeinschaft. Dort kommt sie mit hohen Idealen an, aber wird nach und nach einer richtiggehenden Gehirnwäsche und Psychoterror unterzogen. Sie hört den Satz: "Wenn du bei uns dazu gehören willst, dann musst du alle deine Talente begraben und auf deinen Willen verzichten." Die junge Frau sollte dann als Zeichen von Gehorsam auf ausreichend Schlaf verzichten. In der Beichte wurde ihr die Absolution verweigert. Anschließend hat ihr der Beichtvater mehrere SMS geschickt hat: Wenn du jetzt ohne die Lossprechung heute Nacht stirbst, würdest du in der Hölle landen. Ich staune über die enorme Kraft dieser Frau, sich trotz aller Zwänge von der Gemeinschaft wieder zu lösen und sich gleichzeitig ihren Glauben nicht nehmen zu lassen. Das ist eine berührende Geschichte, aus der ich gelernt habe, wie spiritueller Missbrauch funktioniert.

Frage: Gab es denn auch eine Prüfung, ob die Berichte der Frauen wahr sind?

Haslbeck: Manche Frauen haben uns schon von sich aus entsprechende Dokumente und Papiere vorgelegt. Wie gesagt: dass ihnen nicht geglaubt wird, gehört zu ihren größten Ängsten. Bei manchen haben wir dann später bei der Entstehung des Buches eine Dokumenteneinsicht bekommen. Dadurch, dass die Geschichten anonymisiert sind, hätten sie nichts davon, zu lügen. Weder sie selbst noch die Täter werden genannt, bekommen also durch das Buch keine Aufmerksamkeit. Wir gehen davon aus, dass alle 23 Geschichten hochglaubwürdig sind.   

Von Gabriele Höfling

Buch: Erzählen als Widerstand

Das Buch "Erzählen als Widerstand" erscheint im Aschendorff-Verlag, zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am 25. November. Es enthält Berichte von 23 erwachsenen Frauen über ihre Missbrauchserfahrungen in der katholischen Kirche. Einige von ihnen haben für den Band zum ersten Mal ihr Schweigen gebrochen. Hinzu kommen Essays der vier Herausgeberinnen Barbara Haslbeck, Regina Heyder, Ute Leimgruber und Dorothee Sandherr-Klemp sowie weiterer Autoren. Der Band hat 271 Seiten und kostet 20 Euro. Mehr Infos gibt’s auf einer eigens eingerichteten Homepage.