Brauchtumsexpertin: Durch Pandemie viel Kreativität an Festtagen

Gefährdet Corona unsere Weihnachtsbräuche?

Veröffentlicht am 11.12.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Weihnachtsmarkt, Verwandtenbesuche und Co.: All das ist schwer bis unmöglich in Zeiten einer Pandemie. Bedeutet das das Ende solcher Bräuche? Nein, sagt Kulturanthropologin Dagmar Hänel im katholisch.de-Interview. Denn Bräuche passen sich an.

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Der Alltag ist von zahlreichen Ritualen und Bräuchen durchsetzt, sie geben dem Leben und sozialen Beziehungen eine Struktur. Doch wo Abstand halten und Kontakte beschränken angezeigt sind, werden viele Bräuche auf die Probe gestellt. Im Interview erzählt Dagmar Hänel davon. Sie leitet das LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte in Bonn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Körper- und Medikalkultur, populare Religiosität, Ritual und Brauch.

Frage: Frau Hänel, Bräuche fallen oft dadurch auf, dass sie verschwinden. Wie kommt das?

Hänel: "Bräuche" kommt von "Brauchen" und "in Gebrauch sein". Wenn bestimmte Dinge für die Menschen nicht mehr so wichtig sind, dann werden diese Bräuche verändert: Manchmal fallen sie weg, manchmal werden sie so transformiert, dass man sie nicht wiedererkennt. Aber sie erzählen immer etwas über die Gesellschaft.

Frage: Was für Weihnachtsbräuche gab es denn früher?

Hänel: Es gab einen vor allem im 16. und 17. Jahrhundert beliebten Brauch, das sogenannte Kindleinwiegen. In manchen Museen kann man heute noch Wiegen finden, in die tatsächlich eine Säuglingsfigur als Jesus hineingelegt wurde. Dann hat man sich getroffen, um das Kindlein zu wiegen, hat Lieder gesungen und getanzt, um die Weihnachtszeit zu feiern. Viele der alten Weihnachtslieder haben etwas ganz Fröhliches mit wiegenden Bewegungen. Solche Lieder wurden gesungen, um die Freude über dieses Fest auszudrücken. Sowas hat es bei realen Geburten auch gegeben: Die Nachbarn und die Familie kamen zusammen, haben die Wöchnerin besucht und das Kind angeguckt. Das kennen wir auch heute noch.

Frage: Dazu kam das Stohhalmlegen.

Hänel: Über diesen Brauch haben wir noch Berichte aus den 1950er Jahren, es ist im Prinzip eine Art Adventskalender. Den Kindern wurde gesagt: Jeden Tag, wenn ihr eure Gebete verrichtet und euch gut verhalten habt, bekommt ihr einen Strohhalm und den dürft ihr in die leere Krippe leben. Wenn ihr euch gut verhaltet und immer brav seid, kann am Weihnachtsabend das Jesuskind schön kuschelig weich liegen. Wenn ihr die Krippe nicht voll genug macht, muss es hart und kalt liegen. Das ist ein pädagogischer Brauch, um Kinder zu erziehen.

Bild: ©picture alliance / dpa / Frank Leonhardt

Kindleinwiegen: Eine Wiege mit gewickeltem Jesuskind im Bayerischen Nationalmuseum in München.

Frage: Welche neuen Weihnachtsbräuche gibt es?

Hänel: Ich lehne mich da mal ein bisschen aus dem Fenster: Ich glaube, dass das Fernsehprogramm in diesen Brauchkanon aufgenommen werden müsste. Es gibt bestimmte Formate und Sendungen, die für viele Menschen zur Weihnachtszeit dazugehören, zum Beispiel der Film "Der kleine Lord", "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" oder die Sissi-Reihe. Das sind Formate, die werden in den Weihnachtstagen gezeigt und es gibt Menschen, für die das zentral ist, Sissi 1 bis 3 zu gucken. Damit wird das eine Art Ritual und Brauch. In unserer Mediengesellschaft hat auch das Fernsehen Anteil am Brauchleben.

Frage: Gibt es auch neue Bräuche, die sich auf der Straße abspielen?

Hänel: Weihnachten spielt sich zu einem großen Teil in der Öffentlichkeit ab: Alleine schon das Dekorieren des Hauses mit Lichtern, Weihnachten als Lichterfest gegen die Dunkelheit. Das ist ein Punkt, wo man dieses Gefühl aus dem Privaten in die Öffentlichkeit spielt. Ein wichtiger Teil dieser öffentlichen Bräuche ist etwa der Weihnachtsmarkt, wo sich Menschen treffen und auch Rituale vollzogen werden.

Frage: Was heißt das im Hinblick auf Corona?

Hänel: Was die Bräuche angeht, wird dieses Jahr ein besonderes Jahr. Alle unsere Bräuche, die etwas mit Begegnung, Gemeinschaft und Nähe zu tun haben, können wir nicht pflegen, weil es zu gefährlich ist. Also lassen wir das. Das ist der Moment, wo uns klar wird, wozu wir diese Bräuche eigentlich brauchen. Die sind ein ganz wichtiges Element, was das Jahr strukturiert, was Zeichen setzt, was einen Rahmen setzt, in dem wir uns verhalten können. Dadurch vermitteln Bräuche Sicherheit und Vertrauen. Gerade in einer solchen Krisensituation, in einer Pandemie, wo wir nicht wissen, was kommt, werden wir existentiell aus der Bahn geworfen. Auch diese ganzen Demonstrationen gegen die Maßnahmen sind ein deutliches Zeichen für diese Verunsicherung. Bräuche heilen normalerweise diese Verunsicherung – das zeigt also die Dramatik des Ganzen.

Bild: ©LVR

Dagmar Hänel leitet das LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte in Bonn

Frage: Sind Bräuche also gefährdet?

Hänel: Dass man sagt: "Wir haben jetzt ein Jahr ohne Weihnachtsmarkt verbracht, Glühwein trinken bei zehn Grad und Regenwetter brauchen wir nicht wieder." Ich glaube nicht, dass das passieren wird. Ich glaube, sobald es wieder geht, werden wir uns freuen, diese Bräuche wieder zu vollziehen – vielleicht auch in veränderter Form. Das ist vielleicht ein Moment, sich zu erinnern, zu reflektieren, was diese Bräuche für uns bedeuten. Es geht nicht nur darum, sich gemeinsam zu betrinken, das Zusammenkommen auf dem Weihnachtsmarkt hat eine ganz andere Ebene und Funktion für den einzelnen Menschen und für die Gesellschaft. Das ist auch eine Chance dieser Krise.

Frage: In welcher Form könnten sich Bräuche durch die Pandemie verändern?

Hänel: Das hängt auch davon ab, wie sich die Pandemie verändert. Wenn sie wie die Grippe endemisch wird, also jedes Jahr wiederkommt, wir uns immer schützen und Masken tragen müssen, ändern sich auch Rituale: Zur Begrüßung gibt man sich dann nicht mehr die Hand, sondern macht etwas anderes. Solche Dinge können wir in unsere Bräuche einspielen. Wobei ich hoffe, dass sich durch einen Impfstoff Dinge wie größere Nähe und Sicherheit wieder Einzug halten werden.

Frage: Wird es in diesem Corona-Weihnachten neue und vielleicht auch nur kurzweilige Bräuche geben?

Hänel: Durch diese Pandemie wird Kreativität freigesetzt. Das sehen wir schon das ganze Jahr, dass sich neue Bräuche entwickelt haben: Etwa es das Singen für Menschen, die für uns arbeiten im Frühjahr – das ist eine Form neuer Bräuche in einer Krise. Auch die traditionellen Bräuche sind angepasst worden: Zu Sankt Martin haben sich Vereine Alternativen zu bisherigen Bräuchen überlegt, da wurden Straßen geschmückt und Fenster beleuchtet. Daran konnten Familien mit ihren Kindern vorbeigehen und über die Martinsgeschichte sprechen. Das ist eine Form, diesen Brauch neu zu gestalten und neu zu leben – so etwas wird auch an Weihnachten passieren.

Von Christoph Paul Hartmann

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