Neue Konfession – alter Glaube? Lebensgeschichte eines Alt-Katholiken
Von oben tönt dumpfes Orgelspiel: "ta-da-da" – Bachs berühmte d-Moll-Toccata. Unten sucht Günter Eßer nach dem Lichtschalter. Das unablässig lächelnde Gesicht des 71-Jährigen wird von einem grauen Haarkranz geziert. Wenn man sich den Strickpullover und das fein karierte Hemd wegdenkt, kann man sich den Mann gut im Mönchsgewand vorstellen. Nach und nach springen die Neonröhren an. Der Gemeindesaal kann seine letzte Umgestaltung in den Neunzigerjahren ebenso wenig verleugnen wie die darüber liegende Kirche: viel lackiertes Holz, pastellfarben marmorierte Wände, türkis und violett gemusterte Sitzpolster. In dem hallenartigen Gottesdienstraum hat man den Altar an eine der Längsseiten verlegt, die Gläubigen sitzen auf derselben Ebene im Stuhlkreis – für gewöhnlich zumindest. Wegen der Pandemie-Einschränkungen wird heute nur die Kirchenmusik für den nächsten Online-Gottesdienst eingespielt. "Pa-tada-tada" – der Organist hat noch ein paar Register dazu gezogen und lässt die Orgel voll aufbrausen.
Eßers Lieblingsort in der Bonner Pfarrkirche St. Cyprian ist die kleine Sakramentskapelle gleich rechts vom Eingang, wo in einer schmalen Nische die rote Flamme des Ewigen Lichts flackert. "Dass wir katholisch sind, sieht man schon daran, dass wir das Allerheiligste haben", sagt er. Dass "katholisch sein" aber mehr bedeuten kann, als man im eingeschliffenen Zwei-Konfessionen-Muster vermutet, gehört zu den ersten Dingen, die man im Gespräch mit ihm lernt: Eßer hat als Theologieprofessor gelehrt, ist seit bald 40 Jahren Priester – und verheirateter Familienvater mit zwei Kindern. Möglich ist das in der verhältnismäßig kleinen alt-katholischen Kirche, zu der er Anfang der Neunziger konvertierte.
Der Einstieg zum Ausstieg
Zwar war der gebürtige Kölner nie Pfarrer in St. Cyprian, aber die alt-katholische Kirche an der Adenauerallee war eine seiner ersten Anlaufstellen, nachdem er seine geistliche Heimat in der römisch-katholischen verloren hatte. Eßer war damals bereits zum Priester geweiht und seit 15 Jahren Mitglied im Dominikanerorden. Die Möglichkeit zugleich Seelsorger und Wissenschaftler zu sein, hatte ihn zur Gemeinschaft des heiligen Dominikus geführt. Er habe die Entscheidung Ordenspriester zu werden nie bereut, aber manchmal komme man auch auf guten Wegen an einen Punkt, an dem man feststellt, so kann ich nicht weitermachen. Als Vorsteher einer Dominikanergemeinschaft in Norddeutschland saß er gefühlt zwischen allen Stühlen – eine Situation, die für ihn der Einstieg zum Ausstieg wurde: "Wenn man emotional nicht zuhause ist, dann sucht man nach Alternativen." In dieser aufreibenden Lebensphase lernte Eßer seine heutige Ehefrau kennen. Sie verliebten sich und kamen schnell zu dem Schluss, dass eine heimliche Beziehung für beide nicht in Frage kommt.
Auf die alt-katholische Kirche wurde der strebsame Theologe eher auf Umwegen, bei der Themensuche für seine Habilitation aufmerksam. Die Gemeinschaft der Alt-Katholiken hatte sich Ende des 19. Jahrhunderts von der römischen Kirche getrennt, weil sie die vom Ersten Vatikanischen Konzil verkündete Unfehlbarkeit des Papstes ablehnte. Dem Dogma von 1870 waren heftige theologische Diskussionen vorausgegangen: Seine Gegner waren davon überzeugt, dass die Ausweitung der päpstlichen Autorität der Bibel widerspreche und Fehlerlosigkeit im Glauben allein der Kirche als Ganzes zukomme. Insbesondere die Mitglieder des deutschsprachigen Episkopats sahen in der Unfehlbarkeitserklärung eine machtpolitische Demonstration des Papstes und befürchteten, dass dadurch der römische Zentralismus in der Kirche zementiert werden sollte. Um nicht offen gegen das Dogma stimmen zu müssen, reisten deshalb eine ganze Reihe von Bischöfen vorzeitig aus Rom ab.
Die Protestbewegung der Alt-Katholiken stellte sich in der Folgezeit offen gegen die umstrittene Lehre der päpstlichen Unfehlbarkeit und berief sich auf die synodale Praxis der Alten Kirche in den ersten Jahrhunderten – daher die für heutige Ohren missverständliche Bezeichnung "alt-katholisch". Blickt man nämlich auf die charakteristischen Eigenarten dieser Konfession, dürfte sie auf die meisten alles andere als "alt" wirken: Bereits 1878 hob die Gemeinschaft den Pflichtzölibat der Priester und Bischöfe auf, wenige Jahre später wurde die Verwendung der Muttersprache in den Gottesdiensten eingeführt. Seit den 1990er-Jahren sind in der alt-katholischen Kirche Frauen zu allen Weihestufen zugelassen und gleichgeschlechtlich liebende Paare dürfen kirchlich heiraten. Priester und Bischöfe werden demokratisch gewählt.
Persönliches Ringen zwischen Priestertum und Partnerschaft
Für Eßer und seine Partnerin, die sich wegen ihrer verbotenen Liebe zunächst in einer kirchlichen Sackgasse wiederfanden, erwies sich die reformfreudige Kirche der Alt-Katholiken als idealer Ausweg. Hier konnten sie katholisch leben und alles bewahren, was ihnen wichtig war: ihre gemeinsame Beziehung und Eßers Lebenswunsch, als Priester und Theologe zu wirken. Auf die Frage, ob er auch erwogen habe, sein Priestertum aufzugeben, zögert Eßer. Ja, antwortet er dann, er wäre dazu bereit gewesen – aber zum Glück sei es ja anders gekommen.
Seine erste Messe in der alt-katholischen Kirche feierte Eßer bereits am Sonntag nach der Konversion und seinem Austritt aus dem Dominikanerorder. Von seinem neuen Bischof – es gibt nur ein altkatholisches Bistum für ganz Deutschland – wurde Eßer nahtlos übernommen und als Seelsorger in die alt-katholische Gemeinde in Mannheim entsandt. Die einzige Umstellung sei eigentlich gewesen, dass er nicht mehr wie gewohnt 300, sondern nur noch 20 Gläubige um sich hatte. "Liturgisch muss man schon sehr genau hinschauen, um die wenigen Unterschiede zu finden", sagt der Geistliche. Die feierlichen Riten, die liturgischen Gewänder, die kirchenmusikalische Tradition, der Glaube an die Realpräsenz, all das verbinde die römischen und die "nicht-römischen" Katholiken. Während Eßer von Veränderung und Kontinuität auf seinem Lebensweg erzählt, mischt sich das Läuten der abendlichen Angelus-Glocke durch die Wände des Gemeindesaals in den vertrauten Orgelklang.
Eßers langjährige Wirkungsstätte als Professor liegt nur wenige hundert Meter entfernt an der süd-östlichen Ecke des Hofgartens. Wäre die weitläufige Wiese nicht mit einer majestätischen Baumallee umgeben, könnte man aus den hohen Fenstern des alt-katholischen Seminars ohne weiteres zum Hauptgebäude der Bonner Universität hinübersehen. Nach Abschluss seiner Habilitation bis zur Emeritierung im Jahr 2015 hatte Eßer hier den einzigen Lehrstuhl für alt-katholische Theologie in Deutschland inne. Aktuell sind am Seminar um die 20 Studentinnen und Studenten für den Master eingeschrieben, im Seminar sitzt man aber auch mal zu dritt mit dem Dozenten.
Zuerst der Mensch, dann die Kirche
Während des kurzen Fußwegs erzählt Eßer von den ökumenischen Beziehungen der alt-katholischen Kirche. Mit den Anglikanern etwa steht sie bereits seit den 30er-Jahren in voller Kirchengemeinschaft, seit 2016 auch mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Schweden. Ob das aber automatisch auch für alle Gemeinschaften gilt, mit denen diese Konfessionen wiederum verbunden sind? Ganz so einfach nach der "Logik a²+b²=c²" funktioniere es zu seinem eigenen Bedauern dann doch nicht, sagt der frühere Theologieprofessor. Aber wenn man im ökumenischen Gespräch die institutionellen Schranken einmal überwunden habe und sich auf das Gemeinsame im Glauben konzentriert, komme man sich Schritt für Schritt immer näher. Als "ehemaliger Römer" und langjähriges Mitglied der internationalen Dialogkommission zwischen alt-katholischer und römisch-katholischer Kirche wünscht sich Eßer, dass die gemeinsam erarbeiteten Texte von großkirchlicher Seite endlich einmal gelesen und positiv zur Kenntnis genommen würden. Aber dafür seien die Alt-Katholiken in den Augen vieler Bischöfe wohl schlicht zu unbedeutend.
Katholisch zu sein bedeutet für den Theologen "aus der Tradition den Menschen das Evangelium bringen". Und die Einsicht, dass es nun mal verschiedene Traditionen und verschiedene Bedürfnisse der Menschen gibt, ist für Eßer die Grundvoraussetzung für eine anerkennende Verständigung zwischen den Konfessionen. Immerhin sei der Dienst für die Menschen das Eigentliche im Christentum und die Kirche lediglich ein Werkzeug für diesen Dienst. In der Festschrift zu seiner Verabschiedung wurde Eßer als "lehrender Seelsorger" charakterisiert – eine Formulierung, über die er sich bis heute freut. Genau diese Verbindung war es, die er Zeit seines Lebens gesucht hatte. Im Gespräch mit dem zugleich in sich ruhenden und aus sich hervorsprudelnden Mann erfährt man diese Haltung am eigenen Leib: Sein theologisches Wissen scheint ihm nichts zu bedeuten, solange er es nicht mit seinem konkreten Gegenüber in Verbindung bringen kann. Versucht man seine Gedanken wiederzugeben, ertappt man sich schnell dabei, etwas sprachlich festgezurrt zu haben, das zuvor durch große Offenheit bestach.
Die schlichte Büromöblierung und die hohen Metallregale des alt-katholische Seminars unterscheiden sich nicht von der Einrichtung jedes anderen Universitätsinstituts. Jeweils ein Büro für die Sekretärin, den amtierenden Professor und die "Emeriti" sowie ein etwas größerer Raum für die Seminare. Buchrücken an Buchrücken ziehen sich die Signaturreihen über die Regalwände hinweg. Neben der Eingangstür fällt ein blaues Plakat auf: Um eine schematische Deutschlandkarte sind kleine Fotografien von Kirchen aufgereiht – ein paar barocke, einiges an Historismus und viel Backstein und Beton. Jeder Punkt auf der Karte, die meisten davon im Südwesten Deutschlands und im Rheinland, steht für eine der rund 60 alt-katholischen Pfarreien. Mehr gibt es nicht. Zum Vergleich: Die römisch-katholische Kirche hat in Deutschland – trotz zahlreicher Fusionen – noch immer fast 10.000 Pfarreien.
Die Alt-Katholiken sind und waren immer eine kleine Gruppierung. Etwas über 16.000 Mitglieder zählt das deutsche Bistum heute. Der Preis der kirchlichen Unabhängigkeit? Viele der Forderungen, die von liberalen Kreisen der römisch-katholischen Kirche in Deutschland seit Jahrzenten erhoben und beim "Synodalen Weg" aktuell heftig diskutiert werden, sind in der alt-katholischen Kirche längst umgesetzt. Trotzdem konnte sie nie auch nur annähernd den Umfang der beiden deutschen Großkirchen erreichen. Woran das liegt? Ein Grund sei bestimmt, dass viele Gläubige sich das Leben in den kleinen Gemeinden nicht vorstellen könnten, dass ihnen die heimatliche Vertrautheit der Volkskirchen fehlen würden, die großen Festgottesdienste, sagt Eßer. Aber eine vollauf befriedigende Antwort kennt er auch nicht.
Kontinuität trotz Freiheit zur Veränderung
Günter Eßer hat seine neue Heimat gefunden. Statt von einer "Konversion" spricht er nach alt-katholischem Verständnis lieber von einem "Jurisdiktionswechsel" – ein rechtlicher Schritt, der katholische Glauben sei schließlich erhalten geblieben. Vom "Fallbeil der römisch-katholischen Kirche" ist Eßer freilich trotzdem nicht verschont geblieben: Auf den Übertritt zum Alt-Katholizismus folgten damals seine Suspendierung und Exkommunikation sowie unterschiedlichste Reaktionen im bisherigen Lebensumfeld – von verständnisvoller Bestärkung bis zum völligen Kontaktabbruch. All das erzählt Eßer aber in fröhlicher Gelassenheit und ohne Groll. Der Lebenseinschnitt seines Konfessionswechsels sowie alles was ihm zuvor und danach widerfahren ist, betrachtet er als "Gottes Fügung und Gottes Geschenk".
Bei aller äußeren Veränderung sei er doch innerlich der Gleiche geblieben, gerade weil er im Privatleben einen weiteren Blick und in seinem theologischen Denken größere Offenheit gewonnen habe. Auf diese Weise sei ihm vor allem eines klar geworden: "Man ist nicht fertig. Nicht als Theologe, nicht als Ehemann, Priester und nicht als Mensch." Wer im Leben nicht die Freiheit zur Veränderung hat, der werde irgendwann hart wie Beton.
"Und Beton gibt es in der Kirche schon genug", sagt der frühere Mönch und lacht.