Für Technik ist Platz in Gottes Plan: Die erste Webmasterin des Papstes
Schwester Judith Zoebelein war Mitte der 1990er-Jahre für die Entwicklung und den Betrieb der Webseite des Vatikans zuständig – zusammen mit wenigen Mitarbeitern und drei Erzengeln: Der Rechner "Raphael" war für die Inhalte zuständig, die Firewall hieß "Michael", und der Server für die E-Mails "Gabriel". An Weihnachten 1995 ging es los – mit Tausenden Rezepten für Hühnersuppe. Im Gespräch mit katholisch.de verrät die US-Amerikanerin, wie sie den Vatikan ans Netz gebracht hat – und welche Spiritualität in der Technik steckt.
Thanks to Sister Anne Clare Keeler, FSE, an English translation of the interview is also available.
Frage: Schwester Judith, wie kam es dazu, dass Sie für die erste Internetseite des Vatikans zuständig waren?
Schwester Judith: Ich kam 1991 in den Vatikan. Der damalige Präfekt der Güterverwaltung des Apostolischen Stuhls, Kardinal Rosalio Castillo Lara, hatte mich geholt, um mich um die Computer zu kümmern. Das hat damals in Italien gerade erst begonnen, und als die ersten PCs in den verschiedenen Büros im Vatikan auftauchten, wollte Kardinal Lara sichergehen, dass es dafür ein gewisses Maß an Koordination und einheitlichen Standards gab. Das war meine erste Aufgabe im Vatikan. 1994 ging es dann mit dem Internet los, vor allem mit E-Mail. Nur wenige Vatikan-Mitarbeiter interessierten sich dafür – einer davon war Joaquín Navarro-Valls, der Pressesprecher des Vatikans. Wir haben uns oft getroffen und überlegt, was wir tun könnten: Wäre es nicht großartig, wenn der Vatikan online zu finden wäre? Navarro-Valls schlug das auch Papst Johannes Paul II. vor und sagte ihm, dass das eine großartige Möglichkeit für die Evangelisierung sei, und dass es gut wäre, wenn auch hier die Kirche ihre Stimme erheben könnte.
Frage: Und wie reagierte der Papst?
Schwester Judith: Johannes Paul II. war ein großer Visionär. Er hat sofort zugestimmt, und Weihnachten 1995 war es dann so weit: Wir stellten unsere erste Seite ins Netz. Es war tatsächlich nur eine einzige Seite, ein Bild, eine Papstrede. Und von da an sind die Seiten dann wie Pilze aus dem Boden geschossen.
Frage: Was war dabei Ihre Aufgabe?
Schwester Judith: Wir waren zu zweit: Ein Techniker, der mit der Firma gearbeitet hat, die für unsere Server zuständig war, und ich. Ich war quasi die Direktorin unseres kleinen Büros, ich habe mich um die Kommunikation gekümmert, um die Inhalte und ums Design.
Frage: Sie sind also auch verantwortlich für den Pergament-Hintergrund, den die Vatikan-Seite heute noch hat?
Schwester Judith: So ist es.
Frage: Wie kam es dazu?
Schwester Judith: Im ersten Jahr haben wir mit sehr unterschiedlichen Designs und Formaten herumgespielt. Es gab ja keinen fertigen Plan, wie es aussehen sollte. Nach einem Jahr hatten wir dann endlich die Erlaubnis, das Design auch professionell anzugehen. Fünf verschiedene Firmen haben für uns Entwürfe entwickelt. Da waren einige sehr moderne dabei. Aber bei einem Vorschlag hat es bei uns klick gemacht: Die verstanden uns, wir verstanden die. Und das war der Entwurf mit dem Pergament. Das sollte die 2.000-jährige Geschichte der Kirche symbolisieren und den Geist des Vatikans und des Heiligen Stuhls.
Frage: Der Vatikan ist auch ein riesiger Behördenapparat mit vielen Abteilungen. Wie organisiert man dieses ganze Wissen, diese ganze Struktur auf einer Webseite?
Schwester Judith: Ich war in den ersten Jahren damit beschäftigt, die Computersysteme und das Netzwerk für die unterschiedlichen Einrichtungen zu entwerfen. Dafür musste ich mit den zuständigen Chefs ständig in Kontakt sein, nicht unbedingt mit den Kardinälen an der Spitze, aber auf jeden Fall mit den Sekretären und den anderen Führungskräften. Dadurch hatte ich schon ganz gute Kontakte zu den meisten. Das hat es sehr erleichtert, sie davon zu überzeugen, sich im Netz zu präsentieren. Wir sind von Büro zu Büro gegangen und haben erklärt, dass es da diese großartige Idee eines Internets gibt, wo man alle Informationen an einem Platz zusammenstellen kann und den Menschen ermöglicht zu sehen, was die Kirche tut und wofür sie steht.
Frage: Hat es auch eine Rolle gespielt, dass sie als Ordensfrau diese Aufgabe hatten?
Schwester Judith: Ja. Für die Vatikan-Seite war es wichtig, jemanden zu haben, der die Kirche liebt und versteht. Daher war es ganz gut, dass ich als Ordensfrau dafür zuständig war und keine externe Agentur. Mit der Kirche zu leben, zu wissen, was ihre Aufgabe in der Welt ist und was sie lehrt: Das lernen wir in unserer Ausbildung. Und als Frau in dieser Aufgabe habe ich auch den menschlichen Teil immer im Blick gehabt. Frauen denken ihrer Natur nach immer auch darüber nach, wie etwas Menschen betrifft und was sie brauchen, statt immer nur in technischen Notwendigkeiten zu denken. Zu meinen Aufgaben hat es immer gehört, diejenige zu sein, die die beiden Seiten in Kontakt bringt: die Technik und das Menschliche.
Frage: Sicher hat es auch geholfen, dass der Start sehr erfolgreich war...
Schwester Judith: Ja, die erste Seite an Weihnachten 1995 war ein völlig überraschender Erfolg. Über 90 Zeitungen auf der ganzen Welt haben von unserer Webseite berichtet. Da haben dann auch die Verantwortlichen in den verschiedenen Behörden gemerkt, welche Möglichkeiten der Kommunikation es da gibt. Das war ja noch nicht offensichtlich, aber mit der Weihnachtsseite konnte man ihnen, ohne dass es viel technischen Sachverstand brauchte, erklären, was die Vision war – und viele sind mitgegangen. Nur ein älterer Monsignore war nicht so begeistert. "Ein Netzwerk ist ein Einfallstor für den Teufel", hat er zu mir gesagt, "und dann bewegt sich der Teufel hier im Vatikan umher!" Kurz darauf ist er aber in Pension gegangen.
Frage: Von Johannes Paul II. hätte man so etwas nie gehört.
Schwester Judith: Das stimmt, er stand von Anfang an hinter uns. Er hat später sogar ein Dokument komplett online in Kraft gesetzt, die apostolische Exhortation zur Ozeanien-Synode im Jahr 2001. Er war ziemlich krank und konnte nicht reisen. Wir haben also mit ihm geredet, die ganze Technik vorbereitet, und mit einem Tastendruck verschickte er das Dokument an die Bischöfe in Ozeanien. Er fand das großartig! Er war wirklich einer, der die Idee, moderne Technik für die Kirche zu nutzen, verstanden hat.
Frage: Von Anfang an gab es sehr viele E-Mails für den Papst. Was passierte mit den ganzen Nachrichten?
Schwester Judith: Die erste Seite ging wie gesagt an Weihnachten online, einen Tag, nachdem bekannt wurde, dass der Papst sich eine Grippe eingefangen hatte. Und kaum waren wir online, gingen Tausende E-Mails ein, mit denen Leute dem Papst ihr Hühnersuppenrezept und andere Tipps und Hausmittelchen schickten, damit er wieder gesund werde. Das fand ich sehr berührend: Der Papst war immer eine geheimnisvolle, unberührbare, ferne Person. Dann kam das Internet, und plötzlich war er jemand, der viel nahbarer erschien. Die Leute schrieben ihm, als würden sie mit ihm im Wohnzimmer zusammensitzen: Auf einen Schlag hatten wir um die 5.000 E-Mails, jedoch überhaupt keine Strukturen, die darauf ausgerichtet waren. Der Kardinalstaatssekretär wollte am Anfang, dass der Papst alle ausgedruckt bekam, was auch wir uns gewünscht hatten. Wir brachten Karton um Karton an ausgedruckten Mails zum Papst. Nach ein paar Wochen haben sie dann aber "Halt!" gerufen und darum gebeten, nur noch die mit besonderen Gebets- und anderen Anliegen zum Papst zu bringen. Den Rest haben wir dann auf CDs archiviert. Wir waren ziemlich überwältigt – aber in einer sehr guten Weise. Damit hatte niemand gerechnet.
Frage: Wurden die Mails auch beantwortet?
Schwester Judith: Ja, zumindest einige haben eine Antwort erhalten. Der Papst hatte außerdem in seiner Kapelle eine Kniebank, in die in der Mitte eine Aussparung eingelassen war. Besondere Gebetsanliegen wurden dort hineingelegt, und der Papst betete darüber. Ich weiß nicht, wie genau die Anliegen ausgewählt wurden, aber ich weiß, dass einige unserer E-Mails ihren Weg in die Kniebank des Papstes gefunden haben.
Frage: 2002 erschienen zwei Dokumente des Päpstlichen Rats für die sozialen Kommunikationsmittel, "Ethik im Internet" und "Kirche im Internet". Das waren bahnbrechende Dokumente – aber seither ist nicht viel gekommen. Woran liegt das?
Schwester Judith: Um die Jahrtausendwende gab es in diesem Rat einige sehr helle Köpfe, die über Medien und die Informationsgesellschaft nachgedacht haben. Einige Abteilungen wurden seither deutlich umgebaut. Das heutige Kommunikationsdikasterium ist für alle Medien zuständig – aber vor allem für die Umsetzung, jedoch nicht dafür, über Medien zu reflektieren. Ich möchte nichts Schlechtes über die Leute dort sagen, aber das sind eher Praktiker und Techniker als Philosophen. Vielleicht kommt das einmal wieder, im Päpstlichen Rat für die Kultur gibt es zum Beispiel einige, die das könnten.
Frage: Wenn man sich die Botschaften zum Welttag der Sozialen Kommunikationsmittel anschaut, dann waren die unter Papst Benedikt XVI. viel optimistischer und betonten die Chancen von Social Media. Unter Papst Franziskus wurden sie sehr pessimistisch, dort geht es um Themen wie Fake News und Hass im Netz. Spiegelt das die Zeichen der Zeit wieder – oder haben diese beiden Päpste einen anderen Zugang zum Thema Medien?
Schwester Judith: Sie müssen schon zugeben, dass Social Media und das Netz heute eine Wende zum Schlechteren genommen haben. Es gibt ziemlich viel Schlimmes, bis hin zu Menschenhandel. Franziskus ist ein Papst, der sich die Krankheiten ganz praktisch anschaut und sich überlegt, wie man sie angehen und heilen kann. Benedikt dagegen ist eher ein Gelehrter, ein Visionär, jemand, der Dinge reflektiert. Es geht bei den Botschaften also um die Zeichen der Zeit, und Franziskus geht die heutigen Probleme mit den Medien direkt an, auch die, über die viele lieber nicht reden wollen.
Frage: Und wie halten Sie persönlich es mit den Sozialen Medien?
Schwester Judith: Ich habe einen Twitter-Account, einen Facebook-Account … Ich habe sogar einen Social-Media-Kurs unterrichtet. Aber momentan mache ich damit nicht so viel. An meiner jetzigen Stelle bin ich mehr mit Webinaren beschäftigt. Außerdem haben wir in den letzten Jahren einen Film zum 50-jährigen Jubiläum von “Nostra Aetate” produziert. Dafür war ich zwei Jahre lang auf der ganzen Welt unterwegs und habe Interviews geführt.
Frage: Hat die Beschäftigung mit Technik für Sie auch einen spirituellen Aspekt?
Schwester Judith: Ich bin Franziskanerin. Die Achtung der Natur, der Schöpfung gehört zu unserem Ordenscharisma. Auch Technik ist Teil der Schöpfung. Viele Leute denken, dass Technik überhaupt nichts mit Spiritualität zu tun hätte. Aber ich sehe die Hand Gottes auch da am Werk: Durch uns Menschen hat Gott auch die Technik geschaffen, und so können wir ihn auch dort finden. Sobald wir etwas aus Gottes Gegenwart herausnehmen, wird es problematisch. Meine Mission war es immer, zu zeigen, dass Gott auch für die Technik einen Platz in seinem Plan hat.
Frage: Immer noch gibt es keinen offiziellen Schutzpatron des Internets. Sollte es einen geben?
Schwester Judith: Ich halte das für eine gute Idee, und es gibt ja auch einige gute Vorschläge. Mir scheint, dass Carlo Acutis am geeignetsten wäre, denn er steht als Person auch für das Wirken im Internet. Vorschläge wie Klara von Assisi oder Giacomo Alberione, der Gründer der paulinischen Gemeinschaften, sind auch denkbar, aber Carlo Acutis lebte und atmete in seinem ganzen Wirken das Internet. Außerdem war er sehr jung, als er starb. Ich denke, er hatte auch ein Verständnis für eine Spiritualität der Technik.
Frage: Auch Isidor von Sevilla wird immer wieder als Patron des Internets vorgeschlagen. Wurde das damals diskutiert, als Sie für das Netz im Vatikan zuständig waren?
Schwester Judith: Ja, allerdings nur ganz informell bei einer Tasse Kaffee. Meines Wissens hat das nie jemand offiziell verfolgt. Damals war das Internet ja auch noch für viele, insbesondere für Priester, etwas ganz Neues. Da war das kein offizielles Thema.
Frage: Wenn Sie heute auf vatican.va schauen: Was würden Sie sich dafür wünschen?
Schwester Judith: Ich wünsche mir eine Kontaktmöglichkeit, so dass sich Menschen mit Fragen an die Kirche wenden können: "Ich bin interessiert an dem und dem Thema, können Sie mir ein paar Tipps geben", oder "Ich verstehe diesen Aspekt der kirchlichen Lehre nicht, können Sie's mir erklären" – und dann sollte es ein Team geben, das die Fragen entweder direkt beantwortet oder Ansprechpartner in den Ortskirchen dafür findet. Das könnte ein großartiges Hilfsmittel für die Evangelisierung sein. Klar kommen dann auch Spinner, die irgendeinen Unsinn schreiben. Aber das löscht man dann eben und kümmert sich um die Menschen, die wirklich auf der Suche nach Gott sind.