Der Kapitol-Sturm: Eine zivilreligiöse Attacke auf das Herz der USA
Beobachter aus allen Teilen der Welt konnten am Mittwoch ihren Augen nicht trauen, als radikale Trump-Anhänger das Kapitolgebäude in Washington, DC, stürmten. Wie in einem Schockzustand rangen die großen Medienstationen des Landes um Worte, um dieses Geschehen zu beschreiben. Die aufgestachelten Menschen durchbrachen Absperrungen, bahnten sich ihren Weg bis in die persönlichen Büros der Abgeordneten und sogar in die Sitzungssäle, teilweise bewaffnet bis auf die Zähne. Zahlreiche Verletzte und Tote waren zu beklagen, der wütende Mob hatte seinem vordersten Zweck sogar das eigene Leben und die Gesundheit aller Beteiligten untergeordnet: Ihr Ziel war es, den Kongress von der Ratifizierung des Wahlergebnisses vom 3. November abzuhalten, das nicht Donald Trump, sondern seinen demokratischen Kontrahenten Joe Biden als Sieger hervorgebracht hat.
Alle rechtlichen Klagen Trumps (mehr als 60 bundesweit), alle Behauptungen von Wahlbetrug, "Diebstahl", alle Neuauszählungen waren ins Leere gelaufen. Was nun blieb, war ein Akt purer Gewalt. Wo kein rechtlicher und demokratischer Weg mehr offenstand, nutzte diese Gruppe gewaltbereiter Menschen das letzte Mittel, um ihren Willen durchzusetzen: Wenn die demokratischen Institutionen und gewählten Volksvertreter ihren Willen nicht durchsetzen würden, dann müssten sie zumindest daran gehindert werden, jegliche demokratische Verantwortung auszuüben.
Eine "Entsakralisierung" des Kapitols
Die Zerstörung, die an diesem Tag geschehen ist, wird nachhaltig bleiben. Auch wenn die Gruppe gewaltbereiter Trump-Fans bald wieder aus dem Gebäude vertrieben werden konnte und das Wahlergebnis vom 3. November mittlerweile ratifiziert ist. Der Schaden, der hier angerichtet wurde, kann sich nicht einfach beziffern lassen. Keine Zahl kann beschreiben, was hier verletzt wurde. Ja, nicht einmal die zu beklagenden Menschenleben scheinen ausmachen zu können, was diese Ereignisse in naher und ferner Zukunft bedeuten werden. Die traumatischen Erlebnisse haben die Kraft, die USA in ihrem Selbstbild nachhaltig zu hemmen.
Man darf nicht vergessen: Der Ort, an dem sich diese Tumulte abgespielt haben, hat in den USA weitreichende Bedeutung. Hier geht es nicht nur um ein Gebäude politischer Macht. An diesem geographischen Punkt der US-Hauptstadt befindet sich das Herz der sogenannten "Zivilreligion" – jenem patriotischen Selbstbewusstsein, das über religiöse- und konfessionelle Grenzen hinweg die Geschicke des Landes in eine weltweite Erlösungs- und Verantwortungsrolle einbettet. Der Kaplan des Kongresses, Barry Black, sprach daher am Donnerstag auch von einer "Entsakralisierung" des Kapitols. Jahrhundertelang, waren die USA stolz darauf, dass ihre gemeinsame "Zivilreligion" die Menschen jenseits aller Trennungen und Grenzen verbinde, dass alle Bürger das "God Bless America" anstimmen konnten, ob sie nun gläubig waren oder nicht. Das "unsichtbare Band" (George Marsden), das die Menschen in den USA durch das patriotische Bewusstsein verband, wurde nun frontal angegriffen.
Die Attacke, die sich hier abspielte, war mehr als eine Entscheidung zwischen Trump und Biden oder Demokraten und Republikanern: Dieser Akt zielte auf die steingewordene Symbolik der Nation und ihres Erwählungsbewusstseins. Die "National Mall", der ewa 1,5 Kilometer lange Grünstreifen in Washington, ist gesäumt von Denkmälern, die die Größe des Landes, die Siege der Geschichte und den Stolz der Demokratie ausdrücken. Wer schon einmal vor diesen Gebäuden stand, wird möglicherweise das Gefühl nachvollziehen können, dass es sich hier eigentlich um "politische Sakralbauten", nicht um "bloße" Steine der Erinnerung handelt. Für Menschen in den USA sind die Orte der "Civil Religion" nicht weniger als sakralpolitische Pilgerstätten – ob diese nun Washington, Gettysburg oder Fort McHenry heißen. An diesen Orten wird ein gemeinsames Bekenntnis zu diesem Land und seiner Rolle in der Weltgeschichte ausgedrückt. Diese Topoi markieren in ihrer geschichtlichen Bedeutung weithin sichtbare Siegel auf der "ungeschriebenen" Verfassung US-amerikanischer Politkultur.
Noch nie in der Geschichte hatte es einen annähernd vergleichbaren Vorfall gegeben: Die einzige Attacke auf das symbolisch so wichtige Gebäude gab es im Jahr 1814 – damals von britischen Truppen im offenen Kriegszustand der widerstreitenden Nationen. Doch was sich gestern in der US-amerikanischen Hauptstadt abgespielt hat, kann mit damaligen Maßstäben nicht gemessen werden: Es waren keine ausländischen Streitkräfte, die zu diesem Angriff übergangen sind. Kein staatsferner Agitator oder feindlicher Politiker hatte den Anstoß zu diesen Ausschreitungen gegeben: Es waren US-Bürger, die in diesem gewaltsamen Akt das Herz ihrer eigenen patriotischen Selbstsicherheit gestürmt haben. Es waren Menschen, die sich selbst als Patrioten sahen, aber in der aufgestachelten Stimmung nach den Präsidentschaftswahlen 2020 zu Terroristen im eigenen Land mutiert sind.
Dass der scheidende Präsident mit seiner flammenden Rhetorik daran maßgeblichen Anteil hatte, steht mittlerweile auch innerrepublikanisch außer Zweifel. Die Angriffe waren Auswüchse einer mehr als vierjährigen Kriegsrhetorik, die in die US-amerikanische Politik eingezogen ist und im Tagesgeschäft salonfähig gemacht wurde. Das symbolpolitische "Sakrileg", das aus diesen Tendenzen hervorgegangen ist, macht fassungslos. Es ist weit mehr als Terrorismus. Der Angriff auf die eigenen "heiligen" Symbole – manche Gesetze stellen das "Entehren" der Flagge immer noch unter Strafe – wurde in den USA immer zugleich als Verletzung der höchsten, eigenen Werte gesehen. Nicht selten wird es als Entheiligung des "Politisch-Sakralen" angesehen.
"Nicht mein Präsident!" – "Nicht mein Papst!"
Zugleich wirkt diese Attacke aber offenbarend: Die Unfähigkeit, eine demokratische Wahl anzuerkennen, gerade weil das Ergebnis nicht so aussah, wie man es gerne gehabt hätte, lässt sich keinesfalls nur in den USA ausmachen. Solche Tendenzen sind weltweit in politischen Szenarien, aber durchaus auch in religiösen und kirchlichen Entwicklungen zu sehen. "Nicht mein Präsident!", "Nicht meine Kanzlerin", "Nicht mein Papst!" – all diese Slogans weisen frappierende Ähnlichkeiten auf, die das Bewusstsein vieler Kreise im 21. Jahrhundert beschreiben. Der von Harry Frankfurt in seinem Essay "Bullshit" beschriebene "Generalskeptizismus" der westlichen Welt droht jegliche Akzeptanz Andersdenkender auszuhöhlen. Der populistische Ausbruch einer "Verteidigung des Eigenen" macht im Ernstfall der Polaritäten auch vor den eigenen Mitmenschen nicht mehr halt.
Der Schritt von freier Meinungsäußerung zu – nicht selten populistisch aufgestachelter –Gewalt ist oftmals ein kleiner. Unmerklich droht sich die Spirale der Grenzüberschreitungen hochzuspielen. Was zunächst als friedlicher Protest beginnt und als solche in jeder demokratischen Verfassung seinen Platz haben muss, droht an der Kippe zur Ausschreitung, am Abgrund der Selbstzerstörung zu stehen.
Sowie das Kapitol im Selbstbewusstsein der USA für umfassende Werte und Ziele steht, so hat wohl auch dieser Angriff auf dieses Gebäude im internationalen Bewusstsein als Mahnung mit weitreichender Symbolik zu gelten. Was sich hier am Tag der "Erscheinung des Herren" abgespielt hat, lässt sich nicht auf den amerikanischen Staat beschränken: Hier geht es um mehr, als ein Gebäude jemals wird ausdrücken können. Die Welt blickt dieser Tage nach Washington, DC – und die Frage wird sich aufdrängen, wie viel dieser Sturm auf das politische und demokratische Herz einer Nation auch über andere Staaten und Gesellschaften der vielbeschworenen "Westlichen Welt" aussagt. Die "Erscheinung" dieses 6. Januars ist nicht auf die spirituelle Dimension des christlichen Festkalenders beschränkt: Was sich hier abgespielt hat, besitzt eine umfassende Dimension für das Bewusstsein demokratischer Staaten. Dieser Tag wird im zukünftigen Bewusstsein der US-"Zivilreligion" kein Grund zum Feiern sein, sondern wird zu einem Tag des Gedenkens an die Zerbrechlichkeit von Demokratie, Recht, Freiheit und Toleranz werden.