Nach Kopftuch-Urteil: Welche Zukunft hat Berlins Neutralitätsgesetz?
Seit mehr als zwei Jahrzehnten beschäftigt das muslimische Kopftuch inzwischen deutsche Gerichte und Parlamente – und ein Ende ist trotz unzähliger erlassener Gesetze und mindestens ebenso vieler Gerichtsurteile noch immer nicht in Sicht. Im Gegenteil: In Berlin drängt die auch in anderen Bundesländern diskutierte Frage, ob muslimische Frauen in staatlichen Anstellungsverhältnissen – vor allem in der Justiz und in Schulen – ein Kopftuch tragen dürfen, gerade mit voller Wucht auf die Tagesordnung zurück.
Ausgelöst durch ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom vergangenen August, das das im Berliner Neutralitätsgesetz geregelte pauschale Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen für verfassungswidrig erklärt hatte (AZ: 8 AZR 62/19), wird in der Hauptstadt seit einigen Tagen kontrovers über eine Änderung des Gesetzes diskutiert. Den Auftakt in der Debatte machte kurz nach Neujahr Berlins grüner Justizsenator Dirk Behrendt, der gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd) ankündigte, das aus dem Jahr 2005 stammende Gesetz schnellstmöglich ändern zu wollen – mit dem Ziel, das Tragen religiöser Kleidung an Schulen auch in Berlin künftig zu erlauben.
Justizsenator: Wollen rechtmäßigen und verfassungsmäßigen Zustand herstellen
Der Berliner Senat solle dazu noch in dieser Legislaturperiode, also vor der Abgeordnetenhauswahl am 26. September, einen entsprechenden Gesetzentwurf in das Landesparlament einbringen. "Ob das Parlament das auch noch vor der Wahl beschließt, ist Sache des Parlaments", betonte Behrendt. Man sei sich im Senat aber einig, "dass wir die nötigen Anpassungen vornehmen werden, damit wir zu einem rechtmäßigen und verfassungsmäßigen Zustand kommen". Einschränkend fügte Behrendt hinzu, dass der Senat derzeit noch auf die schriftliche Urteilsbegründung des BAG warte. Sobald diese vorliege, werde die rot-rot-grüne Koalition diese "gemeinsam bewerten und die nötigen Schlussfolgerungen ziehen". Danach könne der Senat zeitnah einen Gesetzentwurf zur Überarbeitung des Neutralitätsgesetzes vorlegen.
Ob neben den Schulen dabei noch andere Bereiche in den Blick genommen werden, "wird sich zeigen", so Behrendt. Diese Bereiche stünden aktuell aber nicht im Fokus der Debatte. "Wir werden in der multireligiösen Gesellschaft hinzunehmen haben, dass Menschen eben religiös sind und auch religiöse Symbole tragen, wenn sie sich in ihrem beruflichen Umfeld bewegen", betonte der Senator. Und weiter: "Es kommt entscheidend darauf an, was die Menschen im Kopf haben und nicht so sehr darauf, was die Menschen auf dem Kopf haben."
„Es kommt entscheidend darauf an, was die Menschen im Kopf haben und nicht so sehr darauf, was die Menschen auf dem Kopf haben.“
Bislang verbietet das einst von SPD und PDS erlassene Neutralitätsgesetz Beamten in Justiz und Polizei sowie Lehrkräften an öffentlichen Schulen das Tragen religiöser oder weltanschaulicher Symbole und Kleidungsstücke. Wörtlich heißt es mit Blick auf Lehrerinnen und Lehrer in Paragraf 2 des Gesetzes: "Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen nach dem Schulgesetz dürfen innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen. Dies gilt nicht für die Erteilung von Religions- und Weltanschauungsunterricht."
Im Wortlaut des Gesetzes kommt das islamische Kopftuch also – natürlich – nicht vor. Dennoch ist klar, dass die damalige Berliner Regierung bei der Formulierung des Regelwerks vor allem kopftuchtragende Musliminnen im Blick hatte. Schließlich wurde das Gesetz kurz nach dem ersten Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts erlassen. Im Fall der bundesweit bekannt gewordenen Lehrerin Fereshta Ludin hatte das Gericht 2003 nach einem langen Rechtsstreit entschieden, dass einer muslimischen Lehrerin nicht ohne ein konkretes Gesetz verboten werden dürfe, im Unterricht ein Kopftuch zu tragen. Die Folge dieses Urteils war, dass Berlin und andere Bundesländer bald darauf entsprechende Regelungen erließen.
Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts als Richtschnur
Eine Zäsur für viele dieser Ländergesetze bedeutete zwölf Jahre später ein weiteres Kopftuch-Urteil des Verfassungsgerichts. Damals kippte das Gericht ein pauschales Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen an öffentlichen Schulen. Ein Verbot sei nur dann möglich, wenn das Tragen der muslimischen Kopfbedeckung eine konkrete Gefahr für den Schulfrieden bedeute, so die höchsten deutschen Richter. Dieses Grundsatzurteil dient seither als Richtschnur für ähnliche Verfahren – wie 2017 in Berlin, als das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg der Argumentation der Karlsruher Richter folgte und die Entschädigungsklage einer muslimischen Frau, die sich als Grundschullehrerin beworben hatte und wegen des Kopftuches abgelehnt worden war, als begründet beurteilte und ihr eine Entschädigung zusprach. Auch das Berliner Neutralitätsgesetz sei, so die Richter, nur bei einer konkreten Gefährdung des Schulfriedens anzuwenden.
Erst nach weiteren ähnlichen Urteilen entschied der Berliner Senat im Frühjahr 2019, das Neutralitätsgesetz vom Bundesarbeitsgericht grundsätzlich überprüfen zu lassen. Darauf folgte schließlich das Urteil vom vergangenen August – und die jetzt aufgeflammte Debatte um die Zukunft des Gesetzes. Dabei geht die Frontlinie auch durch die rot-rot-grüne Koalition, in der es vor allem die SPD ablehnt, Lehrkräften künftig religiöse Kleidung zu erlauben. Bildungssenatorin Sandra Scheeres etwa erklärte, dass das Neutralitätsgesetz an sich nicht verfassungswidrig sei. Schulleitungen sorgten sich, dass ohne neutrales Auftreten der Lehrkräfte religiöse Konflikte in Schulen hineingetragen würden.
Die Bildungsexpertin der Linksfraktion, Regina Kittler, zeigte sich laut dem Berliner "Tagesspiegel" skeptisch, dass die von Behrendt angekündigte Gesetzesnovelle vor der Wahl noch durch das Parlament komme. In ihrer Fraktion gebe es unterschiedliche Meinungen, eine Entscheidung zum Umgang mit dem Kopftuchverbot werde erst nach Lektüre der Urteilsbegründung fallen. Kittler forderte, es müssten Vorkehrungen gegen Indoktrination von Schülern getroffen werden. Wenn in einer Grundschule, in der vor 15 Jahren noch kein Mädchen mit Kopftuch war, dies dort nun Alltag sei, und die Lehrerin ein Kopftuch trage, sorge das für einen bestimmten Umgang. "Lehrerinnen sind Vorbilder für die Kinder."
Die oppositionelle CDU kritisierte Behrendts Forderung scharf. Das Gesetz dürfe „als erfolgreiches Schutz-Instrument gegen religiöse Beeinflussung“ von Schülern nicht aufgegeben werden, erklärte die kirchenpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Cornelia Seibeld. Frauen mit Kopftuch entsprächen „nicht dem Bild einer modernen, aufgeklärten Frau“. Diese Rolle könne kein Vorbild für Schülerinnen und Schüler sein.
Kirchen halten sich aus aktueller Debatte noch raus
Auch die prominente Berliner Rechtsanwältin Seyran Ates reagierte skeptisch auf die Initiative des Justizsenators. "Es hat mich sehr überrascht, dass das Thema – ohne Not – wieder aufgeworfen wurde. Der Justizsenator scheint da eine Obsession zu haben", sagte sie in dieser Woche der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Ates, die das Land Berlin bereits mehrfach vor Gericht vertreten hat, verteidigte das Neutralitätsgesetz: "Es ist ein sehr gutes Gesetz für diese multikulturelle, multireligiöse und multiethnische Stadt Berlin." Mit Blick auf Lehrerinnen und Lehrer äußerte sie die Erwartung, dass diese auch charakterlich und von ihrer Haltung her in der Lage seien müssten, Objektivität und Neutralität zu vermitteln – "und das kann eine Kopftuch tragende Lehrerin niemals, weil sie sich an einer Stelle klipp und klar entschieden hat: fürs Patriarchat und sich als Sexualobjekt zu sehen."
Und was sagen die Kirchen in Berlin? Zu der aktuellen Debatte haben sie sich bislang noch nicht geäußert. Das Erzbistum Berlin teilte auf Anfrage von katholisch.de lediglich mit, dass man sich vor einer Stellungnahme erst mit der evangelischen Seite verständigen wolle. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts hatten beide Kirchen im August allerdings begrüßt. Erzbischof Heiner Koch erklärte damals, die Entscheidung sei ein Anlass, mit dem Staat über religiöse Symbole in der Öffentlichkeit und die staatliche Neutralität zu sprechen. Es seien entscheidende Fragen für ein friedliches Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft. Und Konsistorialpräsident Jörg Antoine von der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) sagte, er hoffe auf mehr Toleranz und Gelassenheit im Umgang mit religiösen Symbolen.