Erzbistum Berlin: Zahlreiche Versäumnisse bei Umgang mit Missbrauch
Im Erzbistum Berlin hat es im Umgang mit Missbrauchsfällen in der Vergangenheit zahlreiche Versäumnisse gegeben. Das geht aus dem am Freitag vorgestellten Gutachten über Fälle von sexuellem Missbrauch durch Seelsorger im Bereich der Erzdiözese seit 1946 hervor. Wörtlich heißt es in dem 669-seitigen Papier der Rechtsanwälte Peter-Andreas Brand und Sabine Wildfeuer: "Aus der Untersuchung der Personalakten ergibt sich eine Vielzahl von Missständen, die bereits für sich genommen, insbesondere aber in der Kumulation geeignet sind, die Verhinderung von sexuellem Missbrauch durch Kleriker zu erschweren, die Aufklärung zu verhindern und notwendige Schlüsse für Intervention und Prävention unmöglich zu machen."
Das Gutachten listet 61 anonymisierte Beschuldigte auf, denen 121 Betroffene gegenüberstehen. Laut Anwältin Wildfeuer sind 37 der Beschuldigten bereits verstorben, 18 befänden sich im Ruhestand. In 49 Fällen handele es sich um sexuellen Missbrauch von Minderjährigen, in fünf Fällen um eine sogenannte Grenzüberschreitung, in einem Fall um Kinderpornografie. Drei Fälle könnten nicht eindeutig zugeordnet werden. Das sei aber nur eine "Momentaufnahme aus den Akten", so die Rechtsanwältin: "Wir gehen von einer erheblichen Dunkelziffer aus."
Gutachten: Systemische Probleme haben Missbrauch erleichtert
Wie bereits vergleichbare Studien festgestellt hätten, habe sich das Bewusstsein für systemische und strukturelle Probleme innerhalb der katholischen Kirche, die sexuellen Missbrauch erleichtert und die Aufklärung verhindert hätten, in nennenswertem Umfang erst ab dem Jahr 2002, insbesondere aber ab dem Jahr 2010 mit der Aufdeckung des Missbrauchsskandals am Berliner Canisius-Kolleg entwickelt, so die Gutachter. Diese Erkenntnis ergebe sich auch aus den nun überprüften Akten über die bisher bekannten Missbrauchsfälle im Erzbistum Berlin.
„Während in den Jahren vor 2002 aus den Akten häufig noch eine deutlich größere Empathie mit den Beschuldigten zu erkennen ist als sie den Betroffenen gegenüber entgegengebracht wurde, hat sich dies seit 2002 erkennbar und grundlegend zum Besseren verändert.“
Zugleich bescheinigen die Anwälte der Erzdiözese in jüngerer Vergangenheit einen Bewusstseinswandel: "Während in den Jahren vor 2002 aus den Akten häufig noch eine deutlich größere Empathie mit den Beschuldigten zu erkennen ist als sie den Betroffenen gegenüber entgegengebracht wurde, hat sich dies seit 2002 erkennbar und grundlegend zum Besseren verändert." Zudem sei vor 2002 aus vielen der untersuchten Akten zumindest "zwischen den Zeilen" herauszulesen, dass es das wesentliche Bemühen der Verantwortlichen im Berliner Ordinariat gewesen sei, Schaden von der Institution abzuwenden. Seither jedoch sei "ein grundlegender Paradigmenwechsel im Sinne einer Hinwendung zu den Betroffenen" festzustellen, die es in diesem Ausmaß vor 2002 nur in Ausnahmefällen gegeben habe.
Das Erzbistum hatte die Kanzlei "Redeker Sellner Dahs" im November 2018 damit beauftragt, die "Verdachtsmomente" bei Priestern, Diakonen und männlichen Ordensangehörigen im Bereich des Erzbistums zu überprüfen, die bei der MHG-Studie zwei Monate zuvor bekannt geworden waren. Im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz hatte die Studie von Forschern aus Mannheim, Heidelberg und Gießen (MHG) für den Zeitraum von 1946 bis 2014 bundesweit 3.677 Betroffene sexueller Übergriffe durch mindestens 1.670 Priester und Ordensleute ermittelt. Die Zahlen erfassen laut Experten nur einen Teil der Fälle.
Berliner Gutachten nicht vollständig veröffentlicht
Vor Berlin hatten bereits einige andere Bistümer entsprechende Gutachten veröffentlicht, darunter Aachen und Münster. Im Erzbistum Köln gibt es dagegen seit Monaten Streit um ein ein von der Münchner Kanzlei "Westpfahl Spilker Wastl". Kölns Kardinal Rainer Maria Woelki hatte entschieden, das Gutachten aufgrund "methodischer Mängel" nicht zu veröffentlichen. Stattdessen wurde der Kölner Strafrechtler Björn Gercke beauftragt, im März eines neues Gutachten vorzulegen. Die Entscheidung Woelkis hat zu scharfer Kritik an der Kardinal und der gesamten Kölner Bistumsführung geführt.
Das Erzbistum Berlin begründete die Entscheidung, den Teil des Gutachtens, in dem konkrete Beschuldigungen und die personenbezogenen Daten der Beschuldigten genannt würden, bis auf weiteres nicht zu veröffentlichen am Freitag mit dem Persönlichkeitsrechtsschutz und der Gefahr der Retraumatisierung der Betroffenen. Außerdem solle eine voyeuristische Darstellung der Fälle vermieden werden.
Die im Gutachten aufgelisteten Handlungsempfehlungen:
Für die weitere Aufarbeitung von Missbrauchsfällen listet das Gutachten Handlungsemfehlungen auf, die die Rechtsanwälte dem Erzbistum Berlin nahelegen. Die Empfehlungen werden im Gutachten selbst ausführlicher dargestellt, katholisch.de nennt hier die Überschriften der einzelnen Empfehlungen:
- Organisationsstruktur überprüfen
- Proaktiv vorgehen – weitere Betroffene ermitteln
- Aktenführung verbessern
- Komunikation verbessern
- Kommunionsunterricht und Firmkatechese verbessern
- Personalauswahl des Priesternachwuchses und des Leitungspersonals professionalisieren
- Zusammenarbeit mit den staatlichen Strafbehörden stärken
- Kirchenrecht konsequent anwenden
- Zuständigkeiten eindeutig definieren
- Empathie mit Betroffenen stärken, Gesprächsmöglichkeiten eröffnen
- Aufklärungsprozess fortsetzen
- Null-Toleranz-Politik konsequent umsetzen
Berlins Erzbischof Heiner Koch erklärte bei der Vorstellung des Gutachtens, bei der Aufarbeitung der kirchlichen Missbrauchsfälle gehe es vorrangig um die Betroffenen: "Ihr Leid können wir nicht rückgängig machen. Die Aufarbeitung der Fälle ist der Teil, den wir beitragen können, um ihr Leid anzuerkennen sowie in der Zukunft die Risiken des sexuellen Missbrauchs zu minimieren." Viele Menschen hätten das Vertrauen gegenüber der Kirche verloren. Vertrauen wiederzugewinnen durch ehrliches, transparentes und offenes Aufarbeiten und das Ziehen von Konsequenzen, sei auch ein Ziel der Auswertung des Gutachtens.
Weiterarbeit am Gutachten: Erzbistum richtet Kommission ein
Generalvikar Manfred Kollig betonte, die Missbrauchsaufarbeitung und das Wiedergewinnen verlorenen Vertrauens würden das Erzbistum weiterhin beschäftigen. "Derzeit sind wir dabei, gemäß dem Beschluss der Bischofskonferenz eine unabhängige Aufarbeitungskommission zu gründen und einen Betroffenenbeirat ins Leben zu rufen", so Kollig. Beide Gremien würden in Kooperation mit den Bistümern Dresden-Meißen, Görlitz und der Katholischen Militärseelsorge gebildet und seien derzeit im Aufbau. Für die Weiterarbeit am jetzt vorgestellten Gutachten sei zudem eine Kommission gegründet worden. Ihre Aufgabe sei es, zu bewerten, wo im Rahmen der Bearbeitung der Fälle nachlässig oder nicht ordnungsgemäß gehandelt oder gar bewusst verschleppt oder vertuscht worden sei. Zudem solle die Kommission, deren Mitglieder vom Diözesanrat und vom Priesterrat entsandt wurden und denen das Gutachten vollständig vorgelegt werden solle, mögliche Konsequenzen benennen.
Auch die Rechtsanwälte listen in ihrem Gutachten zwölf Handlungsempfehlungen auf (siehe Textbox). Unter anderem empfehlen sie vor, die Organisationsstruktur des Berliner Ordinariats gründlich zu überprüfen, die Aktenführung "insgesamt auf ein professionelles Niveau zu heben" und eine Professionalisierung der Personalauswahl des Priesternachwuchses und des Leitungspersonals.
Linktipp
Den veröffentlichten Teil des Gutachtens "Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich des Erzbistums Berlin seit 1946" finden Sie auf der Internetseite des Erzbistums Berlin.