Theologen-Memorandum forderte vor zehn Jahren kirchliche Reformen
Am 4. Februar 2011 veröffentlichten 143 Theologen in der "Süddeutschen Zeitung" Reformforderungen an die katholische Kirche - ein Jahr, nachdem die Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg bekannt geworden waren. Unter der Überschrift "Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch" verlangten die Hochschullehrenden in sechs Punkten unter anderem die Priesterweihe für Verheiratete, eine verbesserte Rechtskultur, mehr Respekt vor individuellen Lebensentscheidungen und das Ernstnehmen der "Sünde in den eigenen Reihen." Die Kirche müsse "aus ihrer lähmenden Selbstbeschäftigung" herausgeführt werden, hieß es.
Die Gründe für einen solch öffentlichen Beitrag, den am Ende 311 Professorinnen und Professoren, 69 davon aus nicht-deutschsprachigen Ländern, unterzeichneten, waren vielfältig. Kirche werde gebraucht, gerade im globalen Süden, sagt der Mainzer Professor für Sozialethik und Mit-Initiator des Memorandums, Gerhard Kruip. Deswegen dürfe sie ihre eigene Autorität nicht zerstören. "Dies geschieht aber durch ihre Reformunfähigkeit und die Missbrauchsskandale."
Mit Blick auf den von Bischofskonferenz und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) initiierten Dialogprozess bestand Sorge, dass dieser nicht die nötige Dynamik bekomme, um "Veränderungen qualitativer Art in Gang zu bringen", erklärt die Münsteraner Lehrstuhlinhaberin für Christliche Soziallehre, Marianne Heimbach-Steins, die ebenfalls eine der Initiatorinnen für das Memorandum war. Mit dem Reformkatalog hätten sie Gesprächsanstöße bieten wollen.
Sofort harsche Kritik an Memorandum
Gegenstimmen auf die Forderungen ließen nicht lange auf sich warten. "Es kam nachdenkliche, vor allem aber sofort harsche Kritik", so Heimbach-Steins. "Aus der offiziellen Kirche erhielten wir mehrheitlich Zurückweisung, die so weit ging, dass uns die Kirchlichkeit abgesprochen wurde."
Eine prominente Entgegnung kam etwa von Kardinal Walter Kasper, der sich wenige Tage später in einem Beitrag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom Memorandum "maßlos enttäuscht" zeigte. "Glauben die Unterzeichner im Ernst, dass die Kirchenverfassung heute eine existenzielle Frage der Menschen ist?", fragte er. Das eigentliche Problem dieser Zeit sei die Gotteskrise, auf die das Memorandum nicht eingehe. Statt oberflächlicher Stellschrauben wie dem Zölibat müsse es um eine radikale Erneuerung des Glaubens gehen.
Sind die zwei unterschiedlichen Pole also Kirchenkrise auf der einen, Gotteskrise auf der anderen Seite? Die Verfasser des Reformtexts betonen dessen theologischen Rahmen. Das Grundanliegen sei die Frage, wie Kirche angesichts ihres Auftrags glaubwürdig sein kann, sagt Heimbach-Steins. "Das Memorandum ist in eine theologische Reflexion über die Kirche eingebettet, der gerne übersehen wird: Kirche ist nicht für sich selbst da, sondern der Verkündigung der Freiheitsbotschaft des Evangeliums verpflichtet."
Ihren Auftrag könne sie nur dann erfüllen, wenn sie "halbwegs stimmig zur eigenen Verkündigung dasteht", so die Professorin. Damit benennt sie ein Kernproblem, das bis heute besteht. Fragen wie die der Rechtskultur und der Anerkennung unterschiedlicher Lebensformen seien nur dringlicher geworden.
Zehn Jahre später fällt die Bilanz also eher ernüchternd aus. Zwar versucht der Synodale Weg, die Debatten strukturiert zu bündeln und voranzutreiben, doch zugleich legt er die innerkirchliche Uneinigkeit offen. Der Graben zwischen konservativen und liberalen Lagern scheint tiefer denn je. Kaum ein Tag vergeht, an dem die Kirche nicht mit negativen Schlagzeilen in der Presse steht; die Austrittszahlen steigen. Lediglich von einer Gottes- und nicht von einer Kirchenkrise zu sprechen, fällt schwer. Auch die Aufarbeitung der Missbrauchsskandale geht nur schleppend voran. Hier schaue man "in immer dramatischere Abgründe", sagt Heimbach-Steins.
Relevante Themen bereits in der Theologie angegangen
In der Theologie seien viele der virulenten Themen akademisch angegangen worden, fügt sie hinzu. Fragen von Macht, Recht und Partizipation wurden bearbeitet - es gehe "um einen lebendigen Prozess zwischen dem, was traditionell war und dem, was die Gegenwart verlangt".
Die Theologen sahen sich in ihrem Memorandum nach eigenen Worten "in der Verantwortung, zu einem echten Neuanfang beizutragen". Heute sei er nicht mehr optimistisch wie in der Anfangszeit von Papst Franziskus, erklärt Gerhard Kruip. Es gebe in der Kirche eine starke traditionelle Struktur, die "ein absolutistisch-hierarchisches System festschreibt, das auch kirchenrechtlich untermauert ist". Jene, die in diesem System wichtige Ämter bekleideten, hätten kein Interesse an Veränderung. "Es gibt nur selten Menschen in Machtpositionen, die daran arbeiten, dass ebendiese Macht beschränkt wird."
Auch Heimbach-Steins zeigt sich skeptisch, "ob das 'System Kirche' mit seiner Organisations- und Machtstruktur im Kern reformierbar ist". Ihre Hoffnung richte sich eher auf die kirchliche Basis als auf die Kleriker-Kirche. "Der große Aufbruch steht noch aus", sagt sie, und fügt an: "Hoffentlich".