Timmerevers zu Missbrauchsfall: Bei Aufarbeitung sind Fehler passiert
Eigentlich war mit Dresdens Bischof Heinrich Timmerevers ein Interview zu seiner Rolle als Gastgeber der Frühjahrsvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz und zum diesjährigen 100-Jahr-Jubiläum seines Bistums vereinbart. Doch erst wurde die Vollversammlung wegen der anhaltenden Corona-Pandemie als Präsenzveranstaltung abgesagt, und dann brach nach Jahren des Schweigens eine Debatte um den wohl gravierendsten Missbrauchsfall im Bistum Dresden-Meißen und dessen bislang versäumte Aufarbeitung aus. Im Interview spricht Timmerevers deshalb nun über die (vorerst) ausgefallene Vollversammlung in Dresden und den Missbrauchsfall.
Frage: Bischof Timmerevers, eigentlich hätte die Frühjahrsvollversammlung der Bischofskonferenz in diesen Tagen in Dresden stattfinden sollen. Die anhaltende Corona-Pandemie hat das jedoch verhindert. Wie enttäuscht sind Sie, dass Sie ihre Mitbrüder nicht in Sachsen empfangen konnten?
Timmerevers: Das ist schon sehr schade – vor allem auch für die Katholiken in unserem Bistum und in ganz Ostdeutschland. Für sie wäre die Vollversammlung in Dresden sicher ein wichtiges Zeichen dafür gewesen, dass die deutschen Bischöfe in ihrer Gesamtheit die besondere kirchliche Wirklichkeit in Ostdeutschland wahrnehmen. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben: Ich möchte meine Mitbrüder gerne so bald wie möglich wieder zu einer Vollversammlung nach Dresden einladen. Im nächsten Frühjahr geht das nicht, da ist schon ein anderes Bistum an der Reihe. Aber für 2023 gibt es bislang noch keinen Gastgeber.
Frage: Mit der Vollversammlung in Dresden hätte auch der 100. Jahrestag der Wiedergründung Ihres Bistums gewürdigt werden sollen. Dieses Jubiläum steht nun insgesamt stark unter dem Eindruck von Corona. Werden sie den Geburtstag der Diözese überhaupt angemessen feiern können?
Timmerevers: Klar ist: Wir werden das Jubiläum auf jeden Fall in diesem Jahr feiern – wenn auch ganz anders als ursprünglich geplant. Das eigentlich für Juni geplante große Bistumsfest auf den Elbwiesen kann aufgrund der aktuellen Lage leider ebenso wenig stattfinden wie das ökumenische Fest, das wir einen Tag vorher gemeinsam mit der evangelischen Landeskirche in Meißen, der Wiege unseres Bistums, begehen wollten. Das ist sehr traurig, aber leider nicht zu ändern. Wir sind stattdessen jetzt mit Hochdruck dabei, möglichst viele dezentrale Angebote auf die Beine zu stellen. Digital und dezentral – so wollen wir das Jubiläum trotz der Pandemie feiern.
Frage: Was ist aus Ihrer Sicht, der Sie selbst erst vor fünf Jahren nach Sachsen gekommen sind, das Besondere am Bistum Dresden-Meißen?
Timmerevers: Unser Bistum hat im letzten Jahrhundert sehr bewegte Zeiten erlebt. Das gilt natürlich auch für die DDR-Vergangenheit, die viele unserer Gläubigen noch persönlich in Erinnerung haben. Die Zeit der DDR war für die Christen eine Zeit der Bedrängnis, in der die allermeisten ihren Glauben trotz staatlicher Repressionen gelebt und wahrhaftig durchgehalten haben. Das ist eine wichtige Erfahrung, von der wir als Kirche auch heute noch profitieren können. Hinzu kommt als Besonderheit natürlich die extreme Diasporasituation, in die wir als Christen in Sachsen gestellt sind. Rund 80 Prozent der Bevölkerung hier haben keinerlei Berührungspunkte mit dem Christentum. Das ist und bleibt eine spannende Herausforderung.
„Wir machen bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in unserer Kirche immer noch einen Lernprozess durch, und dabei können natürlich auch Fehler passieren.“
Frage: Würden Sie sich wünschen, dass diese spezifisch sächsischen oder auch ostdeutschen Erfahrungen bundesweit stärker wahrgenommen werden würden?
Timmerevers: Ja, manchmal schon. Und das sage ich ausdrücklich als jemand, der in Westdeutschland sozialisiert wurde. Seitdem ich Bischof von Dresden bin, habe ich diesbezüglich durchaus einen Lernprozess durchlaufen. Mir ist hier sehr schnell klar geworden, wie stark die Menschen in Ostdeutschland ihr Leben nach 1990 umkrempeln mussten. Die Wiedervereinigung hat bei ihnen zu massiven biografischen Brüchen geführt, sie mussten sich von heute auf morgen ganz neu zurechtfinden. Das ist eine Erfahrung, die man in Westdeutschland nicht machen musste und die bis heute in vielen westdeutschen Herzen und Köpfen nicht angekommen ist. Ich habe Hochachtung vor den Biografien meiner Mitmenschen hier in Ostdeutschland.
Frage: Wenden wir uns noch einmal der Vollversammlung zu. Diese findet – wie schon so oft in den vergangenen Jahren – in einer für die katholische Kirche schwierigen Zeit statt. Wie blicken Sie auf die aktuelle Lage der Kirche in Deutschland?
Timmerevers: Wir erleben in der Tat eine sehr bedrängende Zeit, das ist gar keine Frage. Zum einen macht uns natürlich Corona stark zu schaffen, auch weil wir noch gar nicht absehen können, welche Folgen die Pandemie langfristig für das kirchliche Leben haben wird. Wir ahnen inzwischen aber, dass das Virus erhebliche Veränderungen nach sich ziehen wird. Und als wäre das nicht schon genug, bleibt daneben als Herkulesaufgabe die weitere Aufarbeitung des Missbrauchsskandals. Und auch wenn ich hierbei große Hoffnungen auf den Synodalen Weg setze – auch hier wissen wir noch nicht, welche Ergebnisse am Ende stehen werden.
Frage: Sie sprechen den Missbrauchsskandal an. Hier hat sich die Lage in den vergangenen Monaten wegen der bundesweit diskutierten Vorgänge im Erzbistum Köln noch einmal erheblich zugespitzt. Wie beurteilen Sie die dortige Situation und das Vorgehen Ihres Mitbruders Rainer Maria Woelki?
Timmerevers: Ich denke nicht, dass mir da ein Urteil zusteht. Dazu ist die Situation in Köln nach meiner Wahrnehmung viel zu komplex. Und die massive Glaubwürdigkeitskrise, die wir derzeit als Kirche erleben, beschränkt sich ja nicht nur auf Köln. Wir müssen uns klar machen, dass sich das Entsetzen über die schrecklichen Missbrauchstaten von Klerikern in der Bevölkerung und auch in unseren Gemeinden immer mehr ausbreitet. Dieser Tatsache müssen wir uns dringend stellen und daraus die notwendigen Konsequenzen ziehen.
Frage: Seit einigen Tagen steht der Missbrauchsskandal auch in Ihrem Bistum wieder ganz oben auf der Agenda, nachdem die "Sächsische Zeitung" den Fall des 1971 verstorbenen Priesters Herbert Jungnitsch detailliert nachgezeichnet hat. Jungnitsch hat als Pfarrer in Heidenau mehrere Kinder schwer sexuell missbraucht. Was sagen Sie zu diesem Fall?
Timmerevers: Zunächst einmal bin ich dankbar, dass der Fall jetzt in der Öffentlichkeit ist. Wir waren als Bistum ja schon länger damit befasst, mussten die von uns geplanten Aufarbeitungsschritte wie die Einebnung des Grabs von Pfarrer Jungnitsch und eine Informationsveranstaltung in der betroffenen Pfarrgemeinde wegen Corona aber bislang noch aufschieben. Ich hoffe jedoch, dass wir nun im Sommer entsprechend aktiv werden können. Klar ist: Bei der Aufarbeitung dieses Falls sind Fehler passiert, denen wir uns stellen müssen. Ich möchte aber auch ein Stück weit um Verständnis bitten: Wir machen bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in unserer Kirche immer noch einen Lernprozess durch, und dabei können natürlich auch Fehler passieren.
Frage: Sie stellen es so dar, als hätte vor allem das Bistum die jetzt geplanten Aufarbeitungsschritte angestoßen. Aber war dies nicht vor allem eine Initiative der Heidenauer Pfarrgemeinde und insbesondere des dortigen Gemeindereferenten?
Timmerevers: Sicher sind zentrale Fragen zuerst in der Gemeinde diskutiert worden, wir waren als Bistum aber sehr frühzeitig mit den Verantwortlichen vor Ort im Gespräch. Wir wollen die Gemeinde bei dem nun anstehenden Prozess so gut wie möglich unterstützen und tragen die Ideen zur Aufarbeitung mit.
Frage: Als wir in der vergangenen Woche bei katholisch.de über den Fall Jungnitsch und die geplante Einebnung seines Grabs berichtet haben, hat das zahlreiche Reaktionen ausgelöst. Viele Leserinnen und Leser haben diskutiert, ob eine Einebnung der richtige Weg sei – auch ein Missbrauchstäter dürfe schließlich mit seinem Tod auf Vergebung hoffen. Was antworten Sie darauf?
Timmerevers: Ich stehe in dieser Sache ganz klar an der Seite der Betroffenen. Ihnen wollen wir durch die verschiedenen Aufarbeitungsschritte die Chance geben, dieses schreckliche Kapitel ihres Lebens besser verarbeiten und eventuell sogar ein Stück weit abschließen zu können. In diesem Kontext halte ich auch die Einebnung für eine gute Idee, da es an dem Grab sonst zu Retraumatisierungen kommen könnte. Es geht nicht um ein Tabuisieren oder ein Auslöschen einer Erinnerung, sondern um ein Zeichen der Veränderung. Ob und was an dieser Grabstelle nach einer Einebnung stehen soll, können wir nur im Rahmen der Aufarbeitung vor Ort mit der Gemeinde und den Betroffenen klären.
Frage: Und die Frage der Vergebung?
Timmerevers: Nun, man kann nur hoffen, dass Pfarrer Jungnitsch für sich selbst und seine schrecklichen Taten vor Gott um Vergebung gebeten hat und ihm diese Gnade geschenkt wurde. Das müssen wir aus unserem christlichen Menschenbild heraus aushalten: Auch der größte Sünder bleibt Geschöpf Gottes und ist mit einer unverlierbaren Würde ausgestattet, selbst dann noch, wenn er die Würde anderer mit Füßen getreten hat.
Frage: Der Fall Jungnitsch gilt als einer der gravierendsten Missbrauchsfälle in Ihrem Bistum. Und obwohl er 2010 vom Bistum anonymisiert öffentlich eingeräumt wurde, ist danach kaum etwas passiert. Es hat wohl einzelne Gespräche mit Betroffenen geben, eine Aufarbeitung der Geschehnisse hat aber nicht stattgefunden; auch die betroffene Pfarrgemeinde wurde lange nicht offiziell über den Fall informiert. Wie kann das sein?
Timmerevers: Es stimmt, dass der Fall seit 2010 in unserem Bistum bekannt ist – aber eine wirkliche Aufarbeitung hat ja auch in anderen Bistümern erst nach der Veröffentlichung der MHG-Studie im Herbst 2018 begonnen. Hinzu kommt, dass sich erst jetzt, im Zuge der Recherchen der "Sächsischen Zeitung", neue Betroffene bei uns gemeldet haben und wir über Vorfälle informiert wurden, von denen wir vorher nichts wussten.
„Ich selbst bin erst seit 2016 im Bistum; warum man den Vorwürfen gegen Pfarrer Jungnitsch davor nicht stärker nachgegangen ist, ist mir nicht im Detail bekannt.“
Frage: Aber ist das nicht genau das Problem, dass die Kirche bei der Aufarbeitung ihrer Missbrauchsfälle viel zu oft erst auf äußeren Druck hin reagiert? Als das Bistum 2010 vom Fall Jungnitsch erfahren hat, hätte es doch sofort selbst umfassende Schritte zur Aufklärung und Aufarbeitung in die Wege leiten können...
Timmerevers: Wie gesagt: Bei der Aufarbeitung dieses Falls sind Fehler passiert. Ich selbst bin aber erst seit 2016 im Bistum; warum man den Vorwürfen gegen Pfarrer Jungnitsch davor nicht stärker nachgegangen ist, ist mir nicht im Detail bekannt. Ich kann aber versprechen, dass wir die weitere Aufarbeitung nun mit Hochdruck angehen werden. Zum Beispiel werden wir gemeinsam mit anderen Bistümern jetzt sehr zeitnah eine unabhängige Aufarbeitungskommission auf den Weg bringen und auch einen Betroffenenbeirat einrichten – so, wie es zwischen der Bischofskonferenz und dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs vereinbart wurde. Wir sind also auf dem Weg. Gleichwohl verstehe ich, wenn unsere Schritte manchen nicht schnell genug gehen. Aber das ist auch der Komplexität des Themas geschuldet.
Frage: Die Bistümer haben sich in den vergangenen Jahren sehr stark auf juristische und finanzielle Aspekte der Aufarbeitung konzentriert. Ist die Aufarbeitung vor Ort in den betroffenen Pfarrgemeinden dadurch zu kurz gekommen? Im Fall Jungnitsch scheint das zumindest so zu sein.
Timmerevers: Das kann schon sein, ja. Auch das lässt sich allerdings erklären, schließlich mussten wir in der Bischofskonferenz erst einmal ein gemeinsames Instrumentarium für die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle entwickeln – und das hat Zeit gebraucht. Inzwischen sind wir aber an einem guten Punkt, auch dank der mit dem Unabhängigen Beauftragten festgelegten Standards für die Aufarbeitung.
Frage: Welche konkreten Konsequenzen werden Sie aus dem Fall Jungnitsch für die weitere Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in Ihrem Bistum ziehen?
Timmerevers: Wir wollen uns zunächst vorrangig auf den Fall Jungnitsch konzentrieren und Erfahrungen sammeln, wie die Aufarbeitung in einer Gemeinde gut gelingen kann. Die Schritte, die in Heidenau geplant sind, können meiner Meinung nach durchaus Pilotcharakter haben. Meine Vorstellung ist, dass wir das, was wir in Heidenau lernen, später auch in anderen Pfarrgemeinden umsetzen können.
Zur Person
Heinrich Timmerevers (*1952) ist seit 2016 Bischof von Dresden-Meißen. Zuvor war er Weihbischof im Bistum Münster und dort als Bischöflicher Offizial für das Oldenburger Land zuständig. In der Deutschen Bischofskonferenz ist Timmerevers Mitglied der Kommission für Geistliche Berufe und Kirchliche Dienste sowie der Pastoralkommission.