Neues Buch über Benedikt XVI.: Im Zweifel gegen den Angeklagten
Als im vergangenen Jahr die opulente Benedikt-XVI.-Biografie von Peter Seewald erschien, wurde das Werk in den meisten Rezensionen als allzu positive Darstellung des emeritierten Papstes kritisiert. Diesen Vorwurf kann man dem neuesten Benedikt-Buch auf dem Markt sicher nicht machen – im Gegenteil. Während Seewalds Buch auf Kritik an Benedikt weitgehend verzichtete, liest sich "Nur die Wahrheit rettet. Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger" von Doris Reisinger und Christoph Röhl, das jetzt im Piper-Verlag erschienen ist, über weite Strecken wie eine Anklageschrift gegen den "Papa emeritus".
Angesichts des Sujets des Buchs und des Hintergrunds der beiden Autoren ist das allerdings keine Überraschung. Reisinger und Röhl sind als Kritiker des emeritierten Kirchenoberhaupts bekannt und in der Auseinandersetzung mit ihm auch bereits gemeinsam in Erscheinung getreten. Röhl hat 2019 den vieldiskutierten Dokumentarfilm "Verteidiger des Glaubens" über Benedikt XVI. veröffentlicht, in dem Reisinger gemeinsam mit weiteren Zeitzeugen kritisch über Benedikt und seine Bilanz auf dem Stuhl Petri zu Gericht sitzt. Das Buch ist nun eine Art Fortsetzung des Films, um, so Reisinger jetzt in einem Interview, "die These des Films mit zusätzlichem Stoff zu untermauern".
„Welche Rolle spielte dieser Mann, der über ein Vierteljahrhundert die katholische Kirche entscheidend prägte, in ihrem Versagen in der Missbrauchskrise?“
Worum es ihnen mit ihrem Buch genau geht, machen die Theologin und der Regisseur gleich zu Beginn deutlich: Sie wollten "nicht so sehr den Menschen Joseph Ratzinger beschreiben, sondern vielmehr hartnäckig einer Frage nachgehen: Welche Rolle spielte dieser Mann, der über ein Vierteljahrhundert die katholische Kirche entscheidend prägte, in ihrem Versagen in der Missbrauchskrise?" Das Autorenduo untersucht, was Joseph Ratzinger als Präfekt der römischen Glaubenskongregation (1982-2005) und später als Papst Benedikt XVI. (2005-2013) vom Missbrauch in der Kirche wusste, was er dagegen tat oder nicht tat und warum. "Warum beispielsweise ließ Ratzinger Missbrauchstäter im Priesteramt jahrelang unbehelligt, während er vermeintliche Abweichler in der Doktrin gnadenlos verfolgte? War er sich der Widersprüche seines Handelns bewusst?", fragen Reisinger und Röhl.
Neu sind diese Fragen allerdings nicht, schließlich wird bereits seit Jahren kontrovers über Benedikt XVI. und seine Rolle im Missbrauchsskandal diskutiert. Neben seinem Agieren als oberster Glaubenswächter und Papst wird dabei immer wieder auch seine Amtszeit als Erzbischof von München und Freising (1977-1982) in den Blick genommen. Bis heute ist nicht eindeutig geklärt, wie Joseph Ratzinger damals mit Missbrauchstätern umgegangen ist. Der Fall des wegen Missbrauchs verurteilten Priesters H. etwa, der 1980 während Ratzingers Amtszeit aus dem Bistum Essen in die bayerische Erzdiözese gewechselt war, wirft in dieser Hinsicht noch immer Fragen auf.
Die Autoren wollen in ihrem Buch "ein größeres Bild zeichnen"
Reisinger und Röhl betonen, sie wollten in ihrem Buch nicht nur einzelne Fälle betrachten, sondern "ein größeres Bild zeichnen" und Ratzinger als eine Figur in einem komplexen kirchlichen System betrachten. "Wir bringen seine Biografie in Kontakt mit Ereignissen und Fakten, die zwar längst öffentlich, aber erstaunlich wenig bekannt sind. Wir stellen Ereignisse, Daten und Namen nebeneinander, führen Handlungsfäden zusammen, die uns immer wieder zu Ratzinger führen, die seinen Charakter erhellen, die sein Handeln in neuem Licht erscheinen lassen, die manche Fragen klären und viele andere aufwerfen", schreibt das Duo. So entstehe ein Bild von Benedikt, das ganz anders ausfalle als jenes vom schüchternen Gelehrten, vom stillen Helden, vom "Panzerkardinal" oder vom "Mozart der Theologie". Letztlich, so folgern Reisinger und Röhl schon im Vorwort, wirke nicht nur das Scheitern Benedikts als unvermeidlich, "sondern womöglich sogar das Scheitern seiner Kirche". Das Urteil über den inzwischen 93-Jährigen ist also schon gesprochen, bevor das Buch richtig begonnen hat.
Trotzdem ist das erste Kapitel mit "Eine hagiografische Skizze oder: Ratzingers Geschichte als die eines Helden" überschrieben. Was zunächst verwirren mag, klärt sich schnell auf, denn das Autorenduo gibt hier – natürlich – nicht seine eigene Sichtweise wieder. Vielmehr stellen Reisinger und Röhl die Überzeugung von Anhängern Benedikts dar, die ihr Idol im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der Kirche neben vielen verurteilten, angeklagten oder zwielichtigen katholischen Würdenträgern bis heute als rühmliche Ausnahme sehen. Ein Beispiel für diese Sichtweise lieferte erst vor Kurzem der vatikanische Rechtsexperte Markus Graulich. In einem Beitrag für die Wochenzeitung "Die Tagespost" bezeichnete er Ratzinger als eine Schlüsselfigur bei der innerkirchlichen Verfolgung und Bestrafung sexuellen Missbrauchs. Heutige Errungenschaften auf diesem Gebiet verdankten sich wesentlich der Vorarbeit des langjährigen Kurienkardinals und späteren Papstes.
"Selbst Gegner bescheinigen dem Kardinal und späteren Papst, dass er den Ernst der Lage und das Leid der Opfer früher als andere gesehen und verstanden hätte", schreiben Reisinger und Röhl in diesem Zusammenhang. Viele rechneten Benedikt hoch an, dass er als erster Papst Missbrauchsopfer getroffen habe, und sagten, er habe entschieden gegen Täter durchgegriffen, und zwar trotz des scharfen Widerstands seiner Kardinalskollegen im Vatikan. Doch unmittelbar danach fragt das Autorenduo: "Aber stimmt das?"
Wann begann Ratzingers Kampf gegen den Missbrauch?
Die ausführliche Antwort auf diese Frage geben Reisinger und Röhl in den sieben weiteren Kapiteln des Buchs. Dabei spielt zunächst das Jahr 1988 eine wichtige Rolle, denn auf dieses Jahr datieren die Anhänger des späteren Papstes den Beginn von dessen Kampf gegen den Missbrauch in der Kirche. Der Grund: Joseph Ratzinger sprach sich damals in einem Brief an den Präsidenten des Päpstlichen Rats für die Gesetzestexte für ein "schnelleres und vereinfachtes Verfahren" gegenüber Priestern aus, die sich während der Ausübung ihres Dienstes "schwerer und skandalöser Verhaltensweisen" schuldig gemacht hätten. Reisinger und Röhl schreiben dazu: "Solange man glaubt, die Missbrauchskrise habe erst in den 2000er-Jahren so richtig begonnen und Kindesmissbrauch durch Kleriker wäre zuvor kaum ein Thema gewesen, weder in Rom noch sonst wo, schon gar nicht im Jahr 1988, so lange erscheint Ratzingers Brief von 1988 als ein außergewöhnlich frühzeitiger Schritt im Kampf gegen klerikale Missbrauchstäter. Davon kann freilich keine Rede sein."
„Er kümmerte sich nachweislich jahrelang nicht ernsthaft darum, auch dann nicht, wenn Fälle direkt auf seinem Schreibtisch landeten.“
Die Missbrauchskrise habe, so die Autoren, bereits wesentlich früher begonnen, und Ratzinger habe das nicht nur gewusst, "sondern er kümmerte sich nachweislich jahrelang nicht ernsthaft darum, auch dann nicht, wenn Fälle direkt auf seinem Schreibtisch landeten". Als Beleg führen sie mehrere Missbrauchsfälle aus den USA an, die bereits in der ersten Hälfte der 1980er Jahre den Vatikan erreicht hätten – darunter der Fall des Priesters Stephen Kiesle, den Ratzinger unmittelbar nach seinem Amtsantritt in der Glaubenskongregation im März 1982 auf den Tisch bekommen und jahrelang nur halbherzig und mit großer Nachsicht gegenüber dem Täter verfolgt habe.
Einseitige Darstellung, die dem Protagonisten nicht gerecht wird
In diesem Stil geht es im Buch weiter: Ob Ratzingers Umgang mit dem Missbrauchsskandal um den Gründer der "Legionäre Christi", Marcial Maciel Degollado, sein Verhältnis zu skandalumwitterten Gemeinschaften wie der Katholischen Integrierten Gemeinde und der Gruppierung "Das Werk" (in der Doris Reisinger selbst acht Jahre Mitglied war und wo sie nach eigenen Angaben sexuell missbraucht wurde) oder schließlich sein Agieren als Papst – Reisinger und Röhl zählen vor allem Fehler und Versäumnisse Benedikts auf. Und auch wenn es die zweifellos gegeben hat, gerecht wird diese einseitige Darstellung dem Protagonisten nicht. Im Zweifel gegen den Angeklagten – unter dieser Prämisse scheint das Autorenduo sein Buch geschrieben zu haben. Entlastendes und für Benedikt sprechendes wird am Rande zwar erwähnt, meist aber bereits wenige Sätze später relativiert. Beispielhaft zeigt sich das an der Bewertung von Benedikts Treffen mit Missbrauchsopfern. Zwar erkennen die Autoren an, dass der Papst etwas "noch nie Dagewesenes" getan habe, indem er auf mehreren Reisen Missbrauchsopfer traf und ihre Berichte anhörte. Nur wenige Sätze später bezeichnen sie diese Zusammenkünfte mit den Worten eines Opfervertreters jedoch als "reine PR-Aktion".
So bleibt am Ende der Lektüre von "Nur die Wahrheit rettet" das Gefühl, doch nur die halbe Wahrheit erfahren zu haben. Für ein ganzes Bild des emeritierten Papstes und seines Wirkens sollten man deshalb sicherheitshalber noch zu anderen Büchern greifen – vielleicht sogar zur Seewald-Biografie, die den maximalen Gegenpol zu Reisinger und Röhl bilden dürfte.
Buchtipp
Doris Reisinger, Christoph Röhl: Nur die Wahrheit rettet. Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger. Piper Verlag, München 2021, 352 Seiten, 22 Euro. ISBN: 978-3-492-07069-0