Tizian neben der Tür: Das verschmähte "Letzte Abendmahl" von Ledbury
Mit über dreieinhalb Metern Breite ist es wahrhaft nicht leicht zu übersehen. Trotzdem schenkten die Kirchgänger der englischen Kleinstadt Ledbury einer Darstellung des Letzten Abendmahls in ihrer Kirche St. Michaels and All Angels über Jahre hinweg keinerlei Beachtung. Zu Unrecht, wie die Restauratoren Ronald Moore und Patricia Kenny herausgefunden haben: Mittels UV-Licht und umfangreicher Forschungen konnten sie das Bild der Werkstatt des venezianischen Renaissancemalers Tizian zuordnen – und fanden dabei nicht nur die Signatur des Meisters.
"Von Anfang an hatte ich das Gefühl, dass das Bild etwas von Tizian an sich hat, jetzt haben wir den Beweis", sagte Moore der BBC. Bis zu diesem Durchbruch war aber viel Arbeit nötig. Zuallererst Überzeugungsarbeit. Denn das großformatige Gemälde, das seit über 100 Jahren neben der Eingangstür der Kirche hing, war durch falsche Lagerung stark nachgedunkelt. Der Lokalzeitung "Ledbury Reporter" sagte der Pfarrer der anglikanischen Gemeinde, Keith Hilton-Turvey, dass es gar Stimmen im Kirchenrat gegeben hätte, die das unansehnliche Bild wegwerfen wollten. Und dann Geld für eine Restaurierung ausgeben? Doch Moore blieb hartnäckig und vor drei Jahren wurde er zusammen mit seiner Kollegin Kenny mit der Arbeit beauftragt.
Mitbringsel von der Grand Tour
Zunächst galt es, die durch eine frühere, stümperhafte Restaurierung entstandenen Schäden auszubessern: Ende des 18. Jahrhunderts, nach seiner Ankunft in England, war das Bild teilweise übermalt und mit mehreren, dicken Firnisschichten überzogen worden. Das hatte die originalen Farben verblassen lassen. Dann untersuchten Moore und Kenny mithilfe von UV-Licht die Vorzeichnung unter den Farben. Die freihändig gezeichneten Formen sprachen laut Moore sehr für einen großen Maler der Renaissance.
Um die Autorschaft des Bildes zu klären, durchleuchtete das Restauratorenduo die Herkunftsgeschichte des Bildes, die sogenannte Provenienz. Bevor es 1908 der Kirche von Ledbury gestiftet wurde, hatte das Bild gut 125 Jahre lang auf Upper Hall gehangen, einem Anwesen der lokalen Adelsfamilie Skipp. Einer dieser Skipps, der wie sehr viele seiner männlichen Vorfahren wie auch seiner Nachkommen mit Vornamen John hieß, unternahm Ende des 18. Jahrhunderts die damals für junge Adelige übliche Grand Tour, eine Reise durch Italien und Griechenland zu den Überresten antiker Kultur – und kaufte dabei Kunst für Zuhause ein. Im Familienarchiv fanden Moore und Kenny einen Brief Skipps, in dem er tatsächlich sehr detailliert die Darstellung eines Letzten Abendmahls beschreibt, das er 1775 in Venedig erworben hätte. Und das von Tizian sei.
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Das veranlasste Kenny nach einer Signatur zu suchen. Und unter den Farbpartikeln der späteren "Restaurierung", wurde sie fündig. "TITIANUS. F" (lateinisch für "Tizian hat dies geschaffen") ist – unter UV-Licht – am Rand des Bildes zu lesen. Tiziano Vecellio (1490-1576), genannt Tizian, gilt als wichtigster Vertreter der venezianischen Schule und als einer der bedeutendsten Künstler der italienischen Renaissance. Stilistisch passt das "Letzte Abendmahl" aus Ledbury definitiv in dessen Spätwerk, in dem er deutlich weniger Porträts anfertigt und sich verstärkt religiösen Motiven zuwendet. Jedoch ist Tizians Signatur an dieser Stelle ein wichtiger Hinweis, aber noch kein Beleg.
Die Marke Tizian
Denn wo Tizian draufsteht, ist nicht immer nur Tizian drin. In der Renaissance wandelte sich das Selbstverständnis des Künstlers vom namenlosen Handwerker zum kreativen Individuum. Tizian stand auf der Schwelle dieser Entwicklung, das heißt, Europas Fürstenhöfe verlangten explizit seine Pinselstriche, gleichzeitig musste der schon zu Lebzeiten gefeierte Künstler einer hohen Nachfrage entsprechen. Deshalb umgab er sich, wie es damals üblich war, mit einer sogenannten Werkstatt oder Schule. Seine "Schüler" waren selbst bereits erfahrene und talentierte Künstler, die ihre Fähigkeiten unter der Anleitung eines renommierten Meisters perfektionieren wollten. Und was für die "Marke" Tizian entscheidend war: Sie konnten seinen Stil perfekt imitieren. Der Meister machte also die Vorzeichnungen und seine Schüler führten die Malerei aus. Weil es aus seiner Werkstatt kam, signierte aber nur Tizian.
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Bei Ledburys "Letztem Abendmahl" dürfte ebenfalls die Werkstatt am Werk gewesen sein. Allein deshalb, weil Tizian 1576 starb – vier Jahre vor Vollendung des Bildes. Dass keiner der anderen Künstler, die es fertig malten, ebenfalls signierte, zeigt wie bedeutend die Marke Tizian zu diesem Zeitpunkt bereits war. Moore und Kenny identifizierten mindestens fünf "Hände", von denen die meisten namenlos bleiben müssen. Aber man erkennt sie an feinen Unterschieden. Am besten erkennt man, "dass die Köpfe von verschiedenen Künstlern gemalt worden sind, teilweise von atemberaubender Qualität", so Moore.
Den richtigen Riecher haben
Einer dieser Köpfe ist für Kenny besonders interessant: Der Apostel im gelben Gewand, vom Betrachter aus gesehen ganz links am Tisch. Die Restauratorin hat ein Programm entwickelt, das verschiedene Porträts in Größe und Blickwinkel so aneinander angleicht, dass man sie miteinander vergleichen kann. Quasi eine Art Gesichtserkennung für Renaissancemalerei. Und als sie nun das Gesicht des Apostels mit Tizians Selbstporträts übereinanderlegte, stach ein Merkmal buchstäblich heraus: Apostel und Maler teilen sich die gleiche Adlernase. Auch Bart und Haaransatz glichen einander. Der Apostel trägt die Züge eines mittelalten Tizians. Zwei weitere Figuren die seiner beiden ältesten Söhne. Da das Bild nach seinem Tod vollendet wurde, hält Moore es für möglich, dass Tizians ebenfalls malender Sohn Francesco hier die Familie zum Gedenken verewigte.
Nach all diesen Erkenntnissen ist es für Moore "mit fast vollkommener Gewissheit das einzige großformatige Bild aus Tizians Werkstatt, das bis jetzt unentdeckt geblieben ist". Nach über 11.000 Arbeitsstunden am Bild, haben Kenny und er es soweit gereinigt und gesichert, dass es bald wieder in der Kirche ausgestellt werden kann. Zum Wert des Gemäldes will er sich nicht äußern, britische Zeitungen ziehen zum Vergleich die "Sacra Conversazione" heran, eine für Venedig typische Darstellungsform von Gottesmutter mit Jesuskind und vier Heiligen. Diese war im Jahr 2011 für fast 17 Millionen US-Dollar versteigert worden. Ledburys "Letztes Abendmahl" würde bei einer Auktion aber sicher keine ähnlich hohe Summe erzielen, weil es eben nicht allein aus des Meisters Hand stammt. Der Kirchenrat berät nichtsdestotrotz bereits über neue Sicherheitsvorkehrungen für die Kirche, wegen der zu erwartenden kunstinteressierten Besucher. Und so manch einer wird klammheimlich erleichtert sein, das Bild vor einigen Jahren doch behalten zu haben.