Sozialethiker Emunds sieht grundsätzlichen Änderungsbedarf bei der Caritas

Nach dem Aus für den Pflege-Flächentarif: "Der Dritte Weg ist am Ende"

Veröffentlicht am 10.03.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Frankfurt am Main ‐ In der Caritas streiten sich "Markt-Caritas" und "sozialanwaltliche Caritas", analysiert Sozialethiker Bernhard Emunds. Dieser Konflikt ist nicht geklärt, weshalb sich der Sozialverband nicht nur durch die Ablehnung des Pflege-Flächentarifs in einer Krise befindet – und die Kirche gleich mit.

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Ein Flächentarifvertrag für die Pflege ist gescheitert – ausgerechnet an der Caritas. Dass der kirchliche Sozialverband dafür verantwortlich ist, dass für viele Pflegende weiterhin kein Tarif gilt, empört viele. Besonders deutlich haben sich katholische Sozialethiker zu Wort gemeldet. 17 Professorinnen und Professoren haben eine "Sozialethische Stellungnahme zur Weigerung der Caritas, einem einheitlichen Tarifvertrag Altenpflege zuzustimmen" unterzeichnet. Auf acht Seiten legen die Wissenschaftler dar, warum sie die Entscheidung der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas nicht nur für falsch halten, sondern auch für eine große Belastung für die Kirche insgesamt. Im Interview mit katholisch.de erläutert der Frankfurter Professor Bernhard Emunds, wie ein Konflikt zwischen "Markt-Caritas" und "sozialanwaltschaftlicher Caritas" zur Krise führte – und was der Sozialverband dagegen tun kann.

Frage: Professor Emunds, "die Caritas wird für die Kirche zu einer öffentlichen Belastung", heißt es in dem Papier der Sozialethikerinnen und Sozialethiker. Ist das nicht etwas hart formuliert? Wenn die Kirche momentan für etwas noch geschätzt wird, dann für ihr soziales Engagement.

Bernhard Emunds: Tatsächlich gelten die Kirchen in der Gesellschaft heute dort noch als glaubwürdig, wo es um ihr soziales Engagement geht – in zahllosen Initiativen, aber eben auch bei Caritas und Diakonie. Das ist aber in den letzten Jahren brüchig geworden, weil die beiden kirchlichen Wohlfahrtsverbände der Ökonomisierung sozialer Dienstleistungen nicht entgegengetreten sind, sondern im Grunde einfach mitgespielt haben. Und jetzt, mit der Blockade des Flächentarifs, sind wir an einem Punkt, wo die Caritas das bereits schlechte Image der katholischen Kirche in der Öffentlichkeit verstärkt – das zeigt auch die große öffentliche Aufregung.

Zur Person

Bernhard Emunds ist Professor für Christliche Gesellschaftsethik und Sozialphilosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt und leitet dort das Nell-Breuning-Institut. Der Theologe und Volkswirt forscht unter anderem zur Ethik der Erwerbsarbeit und des Sozialstaats.

Frage: Können Sie sich erklären, wie es so weit kommen konnte? Warum hat die Dienstgeberseite den Flächentarif verhindert?

Emunds: Man muss sich vor Augen führen, dass die Caritas ein riesiger Verband ist. Und wie die meisten Großorganisationen stehen auch die kirchlichen Wohlfahrtsverbände vor der Aufgabe, sehr verschiedene Handlungslogiken vereinbar zu halten. Hier gibt es die Markt-Caritas, dort die sozialanwaltliche Caritas. Bei der Markt-Caritas geht es um die großen Sozialkonzerne, die auf dem Pflegemarkt oder im Krankenhausbereich agieren und dabei weithin einer ökonomischen Logik, einer Wettbewerbslogik folgen. Ihr erste Ziel ist es, sich am Markt zu behaupten, Überschüsse zu erwirtschaften und damit zu expandieren oder sich zu modernisieren. Die sozialanwaltliche Caritas dagegen ist vor allem in Bereichen aktiv, die nicht oder kaum öffentlich refinanziert werden. Hier dreht sich alles um die konkrete Hilfe und das Eintreten für die Benachteiligten und die Unter-die-Räder-Gekommenen. Diese beiden Handlungslogiken stehen in einer starken Spannung zueinander – und die Diözesancaritasverbände sowie die Verbandsspitze in Freiburg sind mitten drin und müssen dafür sorgen, dass für diese Spannung produktive Lösungen gefunden werden oder dass sie zumindest in der Balance gehalten werden. Das ist im Fall des Tarifvertrags Altenpflege nicht gelungen.

Frage: Woran liegt das?

Emunds: Zum einen folgte die Markt-Caritas einer kurzsichtig-betriebswirtschaftlichen Logik, die Flächentarifverträge nur als Beschneiden unternehmerischer Freiheit begreift. So haben sich die Vorstände der katholischen Sozialkonzerne die Ablehnung des Tarifvertrags Altenpflege durch die privat-gewinnwirtschaftlichen Träger zu eigen gemacht. Zum anderen ist es aber auch den anderen Akteuren in der Caritas nicht gelungen, das Management der caritativen Unternehmen von einer längerfristigen Strategie zu überzeugen – ob sie es in ausreichendem Maße versucht haben, müssen sie sich selber fragen! Bei einer solchen Langfriststrategie setzt man darauf, dass auf die Dauer auch das eigene Unternehmen von verpflichtenden Mindeststandards für alle profitiert. Denn solche Regeln sichern die Handlungsspielräume von morgen. Sie verhindern, dass der Wettbewerb über die Arbeitskosten ausgetragen wird, verhindern also, dass in der Zukunft auch das eigene Unternehmen gezwungen sein wird, den Beschäftigten schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhnen zuzumuten. Im aktuellen Fall der Pflege könnten sie verhindern, dass man auch künftig gezwungen sein wird, weit hinter den dringend gebotenen Verbesserungen zurückzubleiben. Die Überzeugung, dass es allgemein verbindliche Tarifverträge braucht, um gleiche Ausgangsbedingungen für alle zu schaffen, ist deshalb nicht nur in der kirchlichen Sozialverkündigung fest verankert, sondern wird auch in der Ökonomie breit vertreten: Nur dann benachteiligt der Wettbewerb nicht die, die anständige Löhne zahlen und anständige Arbeitsbedingungen schaffen. Im Übrigen gehört es zur Tradition der freien Wohlfahrtspflege, dass die Verbände und ihre Mitglieder die sozialen Dienstleistungen, in denen sie tätig sind, und damit auch die Arbeitsbedingungen der Dienstleisterinnen und Dienstleister positiv zu gestalten suchen. Dieses Erbe hat die Caritas nun, mit dem Nein zum Flächentarifvertrag, aufs Spiel gesetzt.

Frage: Es mutet etwas kurios an, dass das für den Flächentarif gewählte Instrument, § 7a des Arbeitnehmerentsendegesetzes, gerade unter starker Einbeziehung der Kirchen entwickelt wurde – wie soll da der kirchliche "Dritte Weg" in Gefahr sein?

Emunds: Ja, im Bundesarbeitsministerium, bei Ver.di und bei den anderen beteiligten Verbänden muss man sich jetzt völlig vor den Kopf gestoßen fühlen. Dort hat man in den Verhandlungen große Rücksicht darauf genommen, dass die Kirchen mit an Bord sind – und trotzdem steigen sie jetzt aus. Auch das erklärt die aktuelle Aufregung darüber, dass sich die Caritas-Dienstgeber vor den Karren privater gewinnorientierter Unternehmen haben spannen lassen. Die Caritas muss jetzt sehr sorgfältig prüfen, wie sie sich in Zukunft entwickeln will – schließlich ist für sie das kirchliche Profil zentral. Und mit diesem kirchlichen Profil ist es nicht vereinbar, wenn große Chancen, Arbeitsverhältnisse sozial zu gestalten, nicht genutzt werden. Dabei geht es nicht um unbedeutende, nur periphere Segmente der Beschäftigung. Vielmehr ist bereits heute in Deutschland jeder siebte Arbeitsplatz in der Branche Gesundheit und Soziales angesiedelt – Tendenz stark steigend. Dass die Arbeit in sozialen Dienstleistungen aufgewertet wird, gilt daher als eine zentrale wirtschafts- und sozialpolitische Herausforderung. In der Branchenrealität von heute jedoch hat sich sehr viel prekäre Beschäftigung ausgebreitet, weil es keine einheitlichen Tarifverträge gibt und auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite starke Akteure fehlen, die das Heft des Handelns in die Hand nehmen. Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände hätten aufgrund ihres hohen Marktanteils große Chancen, die Branche sozial zu gestalten – aber sie nutzen sie nicht und ziehen sich stattdessen in die Nische ihres sogenannten Dritten Wegs zurück.

Stichwort: Dritter Weg

Die Kirchen haben auf Grundlage ihres grundgesetzlich geschützten Selbstverwaltungsrechts ein eigenes System des Arbeits- und Tarifrechts entwickelt. Werkzeuge des Arbeitskampfs, also Streik und Aussperrung, sind dabei ausgeschlossen, das Betriebsverfassungsgesetz gilt nicht. Stattdessen soll der Interessenausgleich im Arbeitsvertragsrecht konsensorientiert zwischen Dienstnehmern und Dienstgebern herbeigeführt werden. Alle Fragen des Arbeits- und Tarifrechts werden daher durch paritätisch besetzte Kommissionen geregelt. Im Bereich der Caritas sind dafür die "Arbeitsrechtlichen Kommissionen" zuständig, in der verfassten Kirche die "Kommissionen zur Ordnung des Diözesanen Arbeitsvertragsrechts" (KODA). Die Regelungen zum kirchlichen Arbeitsrecht werden durch Vereinbarungen im Arbeitsvertrag wirksam. Im Unterschied dazu werden im Zweiten Weg Tarifverträge zwischen zwei autonomen und von einander unabhängigen Tarifparteien abgeschlossen, die unmittelbar und zwingend für den vereinbarten Geltungsbereich anzuwenden sind. (fxn)

Frage: Halten sie es überhaupt für plausibel, dass die Kirchen am Dritten Weg festhalten?

Emunds: Nein, nicht in den Bereichen, in denen Caritas und Diakonie auf Wettbewerbsmärkte aktiv sind. Aber gerade bei der Caritas tun sich beide Seiten, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, sehr schwer, vom Dritten Weg wegzukommen und auf den Zweiten Weg zu wechseln. Die Arbeitnehmerseite hängt am Dritten Weg, weil sie hofft, durch Appell an das soziale Gewissen der „Dienstgeber“ und unter Berufung auf die katholische Soziallehre bessere Konditionen auszuhandeln. Und die Arbeitgeberseite, vor allem das Management der großen caritativen Unternehmen, setzt darauf, im Dritten Weg mehr Freiheiten zu haben als im Zweiten. Diese unternehmerische Freiheit will man sich bewahren. Aber eigentlich ist für Branchen wie der Pflege der Dritte Weg am Ende, was vielleicht auch in die Entscheidung über den Flächentarif mit hineingespielt hat. Gegen die Allgemeinverbindlichkeit haben zwar vor allem die Dienstgeber gestimmt, aber hat die Dienstnehmerseite wirklich einstimmig dafür votiert? Schließlich müssen in der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas seit der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts 2012 auch Gewerkschaftsvertreter mitarbeiten. Ver.di hat das abgelehnt, nicht jedoch der Marburger Bund. So konnten nun auf der Arbeitnehmerseite die Interessenvertreterinnen und -vertreter der Ärzteschaft mit darüber entscheiden, ob die Pflegekräfte mehr Geld verdienen sollen. Genaues darüber, wer wie abgestimmt hat, wissen wir nicht, aber diese verquere Konstellation zeigt doch, dass der Dritte Weg in diesem Bereich am Ende ist.

Frage: Das sind Ihre Argumente – aber werden die auch von den Beteiligten gehört?

Emunds: Ich hoffe es. Es führt kein Weg daran vorbei, dass der Konflikt in der Caritas noch einmal ganz grundsätzlich aufgearbeitet wird – auch als Konflikt zwischen den verschiedenen Akteuren im Deutschen Caritasverband. Ich hoffe, dass diese Aufarbeitung auch sozialwissenschaftlich und vielleicht auch sozialethisch informiert geschieht, mit Wissen darüber, wie der soziale Sektor sich entwickelt und welche Herausforderungen das für die Kirche mit sich bringt. Dabei ist grundsätzlich zu überlegen, wie man zu Regelungen kommt, die den aktuellen Herausforderungen in der boomenden Sozial- und Gesundheitsbranche gerecht werden und was die Caritas dazu beitragen kann. Die Regelungen des Dritten Wegs scheinen mir da doch vor allem ein Klotz am Bein zu sein.

Frage: Das sind sehr langfristige Lösungen. Noch einmal zurück zum Beginn des Gesprächs: "Die Caritas wird für die Kirche zu einer öffentlichen Belastung" – was kann die Caritas kurzfristig tun, um aus dieser selbst verursachten Krise wieder herauszukommen?

Emunds: Kurzfristig wäre durchaus denkbar, dass der Deutsche Caritasverband insgesamt ein anderes Vorzeichen setzt und die Arbeitsrechtliche Kommission noch einmal tagt und den Beschluss revidiert, also der Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags Altenpflege zustimmt. Dann läge der Ball allerdings im Feld der Diakonie, die sich bisher bedeckt gehalten hat. Und dort gibt es ganz ähnliche Konstellationen.

Von Felix Neumann