Aber zahlreiche Verfehlungen anderer Erzbischöfe und Verantwortlicher

Missbrauchsgutachten: Keine Pflichtverletzungen Kardinal Woelkis

Veröffentlicht am 18.03.2021 um 11:05 Uhr – Lesedauer: 

Köln ‐ Das Kölner Missbrauchsgutachten wurde vorgestellt: Etliche Pflichtverletzungen wurden bei ehemaligen Erzbischöfen und Generalvikaren festgestellt und die entsprechenden Namen benannt. Beim aktuellen Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki hingegen wurden den Gutachtern zufolge keinerlei Pflichtverletzungen festgestellt.

  • Teilen:

Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki hat sich laut dem Missbrauchsgutachten der Strafrechtler Kerstin Stirner und Björn Gercke keine Pflichtverletzungen in Sachen Missbrauchsaufarbeitung zuschulden kommen lassen. Dagegen gab es bei anderen Kölner Oberhirten mehrere Pflichtverletzungen bei Verdachtsfällen, so die Verfasser des Gutachtens der Kanzlei Gercke und Wollschläger am Donnerstag in Köln.

Ein Drittel aller Pflichtverletzungen fällt demnach auf den Alterzbischof Joachim Meisner (1933-2017). In 14 Aktenvorgängen habe es 24 Pflichtverletzungen gegeben, sechs Mal habe er seine Aufklärungs-, neun Mal die Melde-, zwei Mal die Sanktionierungs- und einmal die Verhinderungspflicht verletzt. Zudem sei er fünf Mal seiner Pflicht zur Opferfürsorge nicht nachgekommen. Zudem habe Meisner zusätzlich zu den Archiven des Erzbistums einen eigenen, "Brüder im Nebel" betitelten Ordner geführt, in dem er laut Gercke"geheimhaltungsbedürftige Unterlagen aufbewahrt" habe.

Auf Meisners Vorgänger Joseph Höffner (1906-1987) entfielen laut dem Gutachten acht Pflichtverletzungen in sechs Aktenvorgängen, davon sechs Mal fehlende Aufklärung und zwei Mal fehlende Opferfürsorge. Auf den ehemaligen Personalchef und Generalvikar sowie heutigen Hamburger Erzbischof entfallen elf Pflichtverletzungen in neun Akten. Darunter fallen als Personalchef fünf Mal bei der Aufklärung und zwei Mal bei der Opferfürsorge, als Generalvikar ein Mal bei der Aufklärung und drei Mal bei der Meldung. Keine der Pflichtverletzungen habe zu einer Strafvereitelung geführt, so Gercke.

Fünf Pflichtenkreise bei Verdachtsfällen von Missbrauch

Die Strafrechtler hatten für das Gutachten 5 Pflichtenkreise ausgemacht: Aufklärungspflicht, Anzeige- und Informationspflicht, Sanktionierungspflicht, Verhinderungspflicht sowie Opferfürsorge. Beim Umgang mit Laien hat es laut den Strafrechtlern keine Pflichtverletzungen gegeben.

In Bezug auf den langjährigen Generalvikar Norbert Feldhoff fanden die Strafrechtler 13 Pflichtverletzungen in acht Akten, davon sieben Mal bei der Aufklärung und sechs Mal bei der Opferfürsorge. Auf den ehemaligen Generalvikar und jetzigen Weihbischof Dominikus Schwaderlapp entfallen demnach acht Pflichtverletzungen in fünf Aktenvorgängen, von denen zwei Verletzungen der Aufklärungs-, sechs der Meldepflicht waren. Die Rolle des Offizials Günter Assenmacher lasse sich laut Gutachten nicht abschließend klären. Er habe allerdings zwei Mal unzutreffende Rechtsauskünfte erteilt.

Zwei Verantwortliche von Aufgaben entbunden

Woelki entband Assenmacher und Schwaderlapp mit sofortiger Wirkung von ihren Aufgaben. Zudem werde er das Gutachten nach Rom weiterleiten, sagte er in seinem anschließenden Statement. Das sei nur ein erster Schritt, weitere würde er kommende Woche verkünden.

Er habe diesen Tag "herbeigesehnt und darauf hingelebt und gleichzeitig gefürchtet wie nichts anderes", so Woelki. Schon seit Jahren sei bekannt, dass sich Geistliche schuldig gemacht hätte, ohne bestraft worden zu sein oder dass die Betroffenen ernst genommen oder geschützt wurden. "Das ist Vertuschung." Höchste Verantwortungsträger hätten die Taten nicht nach Rom gemeldet und augenscheinlich Verfahren verhindert, hätten nicht sanktioniert, sondern verzögert. Auch seine Vorgänger hätten sich klar schuldig gemacht. Er spielte auf eine Aussage Meisners an: "'Nichts geahnt', das ist seit heute nicht mehr möglich und nicht mehr denkbar."

Woelki betonte zudem, dass es Pflichtverletzungen nur bei Verdachtsfällen gegen Geistliche, nicht jedoch bei Laien gegeben habe. "Das spricht Bände und das berührt und beschämt mich zutiefst, denn ich bin überzeugt: Handeln muss auch für Kleriker Konsequenzen haben", so Woelki.

Rainer Maria Woelki im Portrait
Bild: ©KNA/Bert Bostelmann

Der Kölner Erzbischof Kardinal Rainer Maria Woelki hat sich laut dem Gutachten keine Pflichtverletzungen zuschulden kommen lassen.

Insgesamt gab es 202 Beschuldigte, 63 Prozent davon Kleriker, 33 Prozent Laien und vier Prozent Einrichtungen. Von den 314 Betroffenen ist die Mehrheit männlich (57 Prozent). Alle Zahlen beziehen sich rein auf eine Aktenanalyse. 55 Prozent der Betroffenen waren bis 14 Jahre alt, bei 18,8 Prozent gab es keine genaue Angabe zum Alter, aber die Feststellung, dass es sich um Minderjährige handelt. Erwachsene Schutzbefohlene machten nur 0,3 Prozent der Betroffenen aus.

Die Taten sind zum großen Teil sexualisierter Natur: 31,8 Prozent sexueller Missbrauch, 16,9 Prozent Verletzung des Distanzverhältnisses, 15,3 Prozent schwerer sexueller Missbrauch, jeweils 5,7 Prozent sonstige sexuelle Verfehlungen und andere mit "unklarem sex. Bezug" sowie 15 Prozent unbestimmte Angaben mit "sex. Bezug". 9,6 Prozent der Fälle betrafen verbale Grenzverletzungen. Ein Viertel der Übergriffe fand bei privaten Treffen statt, der Rest verteilt sich auf verschiedene kirchliche Handlungsfelder wie Schule und Jugendarbeit.

Häufung der Verdachtsfälle vor 1975

Zeitlich gibt es eine Häufung der Verdachtsfälle vor 1975 (36 Prozent). Ab 2010 kam es zu einem erneuten Anstieg, etwas mehr als ein Viertel der Verdachtsfälle wurden in dieser Zeit verortet. Ab 2010 kam es zudem zu einer deutlichen Häufung des Bekanntwerdens der Verdachtsfälle. Fast drei Viertel der Fälle wurde erst ab diesem Zeitpunkt bekannt. Im Zeitraum von 1975 bis 1979 wurde dagegen gar kein Fall bekannt, obwohl 40 Prozent der mutmaßlichen Tatzeitpunkten in oder vor diesen Zeitraum fielen.

Woelki hatte im Dezember 2018 zunächst die Münchener Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) mit einem Gutachten zum Umgang mit Missbrauchsfällen in seiner Diözese beauftragt. Akten sollten daraufhin gesichtet werden, ob die Diözesanverantwortlichen im Einklang mit kirchlichem und staatlichem Recht handelten und ob ihr Vorgehen dem kirchlichen Selbstverständnis entsprach. Dabei sollten auch Namen genannt werden. Im März 2020 wurde die Vorstellung dieses Gutachtens zunächst vertagt, im Oktober dann ganz abgesagt. Grund waren laut Erzbistum "methodische Mängel". Nun bekam der Kölner Strafrechtler Björn Gercke den Auftrag für ein neues Gutachten.

Einige Fälle aus dem WSW-Gutachten sind bereits öffentlich geworden. Demnach soll der heutige Erzbischof von Hamburg, Stefan Heße, als Personalverantwortlicher in Köln Missbrauchsfälle vertuscht haben. Das Erzbistum Köln weist die Berichterstattung dazu teilweise zurück. Zudem soll Woelki selbst laut Recherchen des "Kölner Stadt-Anzeigers" Vorwürfe gegen einen mit ihm befreundeten Priester nicht nach Rom gemeldet haben. Der Vatikan sah darin kein Fehlverhalten des Oberhirten. Die Vorgänge haben für großes Aufsehen im Erzbistum Köln und darüber hinaus gesorgt. Aus Gemeinden und Verbänden kam Kritik an Woelki bis hin zu Rücktrittsforderungen. Unterstützer des Kardinals forderten dagegen Fairness vor der Veröffentlichung des Gercke-Gutachtens. (fxn/cph)