Viel Recht, wenig Moral: Das Kölner Gutachten kann nur der Anfang sein
"Hier sind jetzt über 60 Bischöfe versammelt, gibt es einen oder zwei, die im Zuge ihrer Beratungen gesagt hätten: Ich habe so viel persönliche Schuld auf mich geladen, ich kann eigentlich diese Verantwortung des Amtes nicht mehr tragen?", hatte die Journalistin Christiane Florin im September 2018 den damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz gefragt. "Nein", war die knappe, etwas verwunderte Antwort von Kardinal Reinhard Marx. Gut zweieinhalb Jahre später gibt es zwei Bischöfe, bei denen aus dem Nein ein Ja wurde. Kein ganz freiwilliges. Erst die schonungslose Darstellung der Aktenlage im Kölner Missbrauchsgutachten der Kanzlei Gercke und Wollschläger hat bei Erzbischof Stefan Heße in Hamburg wie bei Weihbischof Dominikus Schwaderlapp in Köln das Gewissen so weit beflügelt, dass sie ihr Amt nicht mehr tragen können, oder zumindest nicht mehr ausüben können, ohne Amt und Bistum Schaden zuzufügen.
Dabei sollte Gewissenserforschung doch zur Kernkompetenz der Geistlichkeit gehören: Schuld und Sühne, Vergebung und Versöhnung, Beichte und Lossprechung – der Umgang damit steht gewissermaßen in der Stellenbeschreibung für Priester. Und doch brauchte es erst ein trockenes juristisches Gutachen als Beichtspiegel, bevor es zu Konsequenzen kam.
Darin liegt eine gewisse Ironie: War dem einkassierten ersten Gutachten der Münchener Kanzlei WSW neben den viel zitierten "äußerungsrechtlichen Problemen" zu viel Moral, zu wenig anwaltliche Distanz vorgeworfen worden, schien das Kölner Gutachten am genauen Gegenteil zu kranken. Auch wenn Chef-Gutachter Björn Gercke mit markigen Worten immer wieder versicherte, dass er keinesfalls jemanden schonen wolle: Zu wenig an Sensibilität für den Anspruch der Kirche und zu viel an juristischen Absicherungen schienen den Erfolg des Gutachtens zu gefährden. Eine reine "Rechtmäßigkeitskontrolle" drohte angesichts der unzureichenden Rechtslage und den vielen durch Verjährung oder Versterben nicht zu ahndenden Vergehen dem Ausmaß der Schuld nicht gerecht zu werden, das seit Jahren durch die Beharrlichkeit von Betroffenen und später die MHG-Studie ans Licht kam.
Kirchliches Selbstverständnis reduziert auf eine Verwaltungsvorschrift
Der Eindruck wird vor allem durch die Methodik des jetzt vorliegenden Gutachtens befördert. Den Auftrag eines Abgleichs mit dem "kirchlichen Selbstverständnis" reduzieren die Juristen für ihr Urteil methodisch auf die Missbrauchsordnung der Bischofskonferenz: "Die Gutachter gehen daher davon aus, dass diese Ordnung das aktuelle Selbstverständnis der deutschen Diözesen zu dieser Problematik zum Ausdruck bringt" – kirchliches Selbstverständnis eingedampft auf eine Verwaltungsvorschrift.
Zumindest für die Vergangenheit hat dieses Vorgehen funktioniert. Die Einsicht in Schuld und Verantwortung wurde nicht durch geistliche Übung, sondern durch trockenes Aktenstudium erzwungen. Ob hier tatsächlich das Gewissen Gehör gefunden hat, oder ob es nur die Einsicht war, dass mit noch so viel Willen zur klerikalen Macht und Glauben an die eigene Unersetzlichkeit und Selbstverzeihensfähigkeit jetzt der allerletzte Moment bestand, in dem ein Rücktritt noch halbwegs glaubhaft als honorig gewürdigt werden kann, wissen nur die Betroffenen selbst – und der, vor dem sie sich auch ohne Gutachten hätten verantworten müssen, und dem sie eigentlich besonders nah sein sollten.
Dabei sollte man jedoch nicht glauben, dass nach dem Kölner Missbrauchsgutachten nun alles gut sei: Etwa weil es bei der Benennung des Fehlverhaltens von Verantwortlichen eine klare Zäsur zwischen der Ära Woelki gibt – klare Kante, kein Fehlverhalten, kompromisslose Aufklärung – und den drei Vorgängerbischöfen mit ihrem Personal – eine Aneinanderreihung von Verantwortungslosigkeit, Verwaltungsversagen und klerikaler Fühllosigkeit.
Auch Gercke zeigt die Grenzen seiner Methode auf: Er ist Strafrechtler, sein Auftrag war nun einmal die Rechtmäßigkeitskontrolle. Er selbst hat betont, dass er nicht aus einer historischen, soziologischen, psychologischen oder theologischen Warte Aufarbeitung leisten könne. Die Form des Gutachtens verleitet aber dazu, durch die spezifisch individuelle Sichtweise von Schuld, Pflicht und Pflichtverletzung die systemische Dimension zu verkennen – als sei der Umgang mit Missbrauch nur eine Frage der persönlichen Tugend der handelnden Personen, und als sei es mit einem Rücktritt der damals Verantwortlichen getan.
Die Wurzeln sind in der Struktur der Kirche verankert
Die Gutachter selbst weisen darauf hin, dass es zwar keine "systematische Vertuschung", wohl aber "systembedingte oder systeminhärente Vertuschung" in der Kirche gibt – und das geht weit über unzureichende Aktenführung hinaus: Sicher ist es kein Zufall, dass es bei verdächtigten Laien kein vergleichbares Durchsetzungsproblem wie bei beschuldigten Klerikern gab und sicher auch noch gibt – und wahrscheinlich ist es, dass unterhalb der harten Schwelle der juristischen Rechtmäßigkeit auch heute noch Klerikalismus, ein problematisches Rollen- und Führungsverständnis und unreflektierte und verdrängte Macht ein Klima begünstigen, in dem Missbrauch gedeihen kann. Bei aller Medien- und Öffentlichkeitsschelte, die bei der Vorstellung des Gutachtens vorgetragen wurde: Erst der Druck der Öffentlichkeit hat überhaupt dahin geführt, dass es zu Versuchen der Selbstaufklärung kommt. Gleichzeitig ist noch immer vieles ungeklärt: Solange die Kirche keine klaren, transparenten und unparteiischen rechtliche Verfahren hat, sondern gerade in Bischofsfragen Rom hinter verschlossenen Türen Entscheidungen trifft, ohne sie zu erklären, solange kirchliche Macht – Verwaltungsmacht, Pastoralmacht, Justizmacht – unkontrolliert und unkontrollierbar durch eine überhöhte Amtstheologie zementiert wird, bleiben die Wurzeln in der Struktur der Kirche verankert. Und das nicht nur in ihrer behördenmäßigen Verwaltungsstruktur.
„Wir sind auf ein System der Unzuständigkeit, der fehlenden Rechtsklarheit, der fehlenden Kontrollmöglichkeiten und der Intransparenz gestoßen, das Geheimhaltung jedenfalls begünstigte und an dem viele Beteiligte mitwirkten, auch außerhalb des Erzbistums Köln.“
Das Kölner Gutachten darf daher kein Endpunkt sein. Die Kirche sollte sich höhere Ziele stecken als eine "Rechtmäßigkeitskontrolle". "Kirchliches Selbstverständnis" muss mehr sein als ein Abgleich mit einer Verwaltungsverordnung der Deutschen Bischofskonferenz. Das Gutachten hat einige Fragen geklärt, vor allem die des Wer und des Was. Offen bleibt immer noch die Frage des Warums – und diese Antwort ist komplexer als "wegen nachlässiger Aktenführung" und "weil man vor 1990 so wenig über sexualisierte Gewalt wusste". Wer Ordner über "Brüder im Nebel" führte, der wusste, warum er Akten genau dort abheftete. Das Gutachten ist ein wichtiger Schritt – aber nur ein Zwischenschritt auf dem Synodalen Weg, der sich gerade auch die ekklesiologischen Dimensionen von Macht und Gewaltenteilung in der Kirche zur Klärung vorgenommen hat.