Schlüssel zum Verständnis von Leiden und Sterben Jesu

Alttestamentliche Anspielungen in den Passionserzählungen

Veröffentlicht am 02.04.2021 um 12:50 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die Autoren der Evangelien standen vor einer schwierigen Aufgabe: Wie lässt sich erklären, dass der Weg des Messias ausgerechnet ans Kreuz führte? Die Suche führte sie vor allem zum Alten Testament: Dort fanden sie Texte vor, die dem Leiden und Sterben Jesu Sprache und Deutungshorizont gaben.

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Dass die Evangelien wohl durchdachte und komponierte Texte sind, wird besonders an den Passionserzählungen deutlich. Immerhin standen die Autoren vor einer schwierigen Aufgabe: Wie lässt sich erklären, dass der Weg des Messias ausgerechnet ans Kreuz führte? Die Suche, auf die sich die neutestamentlichen Gemeinden und Autoren gemacht haben, führt sie in erster Linie zum Alten Testament. Indem sie von dort Texte einspielen, gaben sie dem Tod Jesu eine Sprache und reflektierten das Geschehen theologisch.

Diese Reflexion geschieht insbesondere durch den Bezug auf die Psalmen, genauer gesagt auf die sogenannten Klagepsalmen. Sie schienen geeignet, das Schicksal Jesu, sein Leiden und Sterben, zu deuten. So sind die Passionserzählungen voll von Zitaten und Anspielungen – manche davon sind von zentraler Bedeutung für ihr Verständnis.

Psalm 22 als wichtigster Bezugstext

In den synoptischen Evangelien, also bei Markus, Matthäus und Lukas, ist einer der wichtigsten Bezugstexte für die Kreuzigungsszene Psalm 22. Bei ihm handelt es sich – zumindest im ersten Teil – mit seinen vorwurfsvollen, klagenden Frage nach dem "Warum" oder "Wozu" des Leids (Ps 22,2) um ein Dokument tiefster Gottverlassenheit angesichts von Verfolgung und Leid. Der Beter fleht Gott zunächst verzweifelt um Hilfe und Rettung an (Ps 22,20-22). Im zweiten Teil (Ps 22,23ff.) des Psalms kommt es jedoch zu einem Stimmungsumschwung: Gott wird für seine Heilstaten gepriesen, der Beter erweitert im Lobpreis die Perspektive auf die Völker der Welt, die sich vom Handeln Gottes beeindruckt zeigen sollen.

EIn junger Mann liest Psalmen in der Bibel.
Bild: ©Mele Avery/Fotolia.com (Symbolbild)

Um dem Leiden und Sterben Jesu eine Sprache zu geben, bedienten sich die Autoren der Evangelien vor allem der Psalmen.

In den Schilderungen des Kreuzigungsgeschehens tauchen bei den Synoptikern mehrere Zitate aus dem 22. Psalm auf: die Information über das Verteilen der Kleider und das Loswerfen (z. B. Mt 27,35 – Ps 22,19) sowie das Gaffen des Volkes und die Verspottung Jesu (z. B. Mt 27,39 – Ps 22,8). Doch der deutlichste und offensichtlichste Bezug aus Psalm 22 findet sich nur bei Markus und Matthäus. Sie legen dem sterbenden Jesus als letzte Worte den Beginn des Psalms in den Mund: "Mein Gott, mein Gott, warum (beziehungsweise wozu) hast du mich verlassen?" Dieses Zitat ist sozusagen der hermeneutische Schlüssel für das Verständnis der markinischen und matthäischen Kreuzigungsszene.

Während das alttestamentliche Gebet vom Klageschrei ausgeht, um dann Schritt für Schritt den Abgrund der Gottverlassenheit freizulegen, bevor es sich schließlich zum Guten wendet, notieren Markus und Matthäus mit Hilfe des Psalms, der nur in seinem ersten Abschnitt aufgenommen wird, demütigende Details der Hinrichtung, bevor sie Jesus den Klageschrei ausstoßen lassen. Er wird sozusagen zum gottverlassenen Gottessohn gemacht – unerhört, würde man meinen. Doch die Adressaten waren mit der Bibel Israels und den Psalmen vertraut und verstanden den Wink: So wie der Beter von Psalm 22 aus seiner Bedrängnis gerettet wird, ruft jener Schrei die Gewissheit wach, dass der sterbende Jesus eben nicht von Gott verlassen, sondern aus dem Tod gerettet wird.

Jesus als leidender Gottesknecht

Die neutestamentliche Exegese weist darauf hin, dass die Passion Jesu demnach nach dem Muster des der Bibel bekannten "leidenden Gerechten" zu verstehen ist: ein Mensch, der leidet, weil er in einer ungerechten Welt gerecht ist, aber in seiner Qual nicht von Gott lässt – und schließlich auch von Gott gerettet wird. Hier schwingt ein weiterer Text aus dem Alten Testament mit: das Vierte Lied vom Gottesknecht (Jes 52,13-53,12). Darin nimmt ein ein verfolgter Prophet das ihm zugefügte Unrecht vor Gott auf, damit die Übeltäter, die es verursacht haben, nicht bestraft werden, sondern eine Vergebung erlangen, die aus dem Leiden selbst heraus geschieht, und zwar durch das Opfer. Das leiden ist zwar nicht gottgefällig, wird, aber auf die Bitte seines Knechtes hin von Gott zum Guten gewendet, und zwar für das Opfer und für die Täter: Gott steht zu seinem leidenden Knecht, indem er sein Leiden zur Sühne für die ihm angetane Schuld erklärt. Im christlichen Glauben wird dieser leidende Gottesknecht mit Jesus identifiziert.

Lukas – obwohl er ebenfalls Synoptiker ist – lässt den Klageschrei weg. Allerdings legt er dem sterbenden Jesus eine Stelle aus Psalm 31 in dem Mund. In diesem Text kommt der Beter von Bitte und Klage über die Zusicherung einer Erhörung durch Gott zu Lobpreis und Danksagung. "In deine Hand lege ich voll Vertrauen meinen Geist": Lukas lässt Jesus diesen 6. Vers des Psalms in leicht abgewandelter Form sagen (Lk 23,46). Während der Psalmist allerdings um die Befreiung vom Tod bittet und sie erhält, vertraut Jesus auch im Tod weiterhin auf Gott und erfährt erst in der Auferstehung die Erlösung. Der Alttestamentler Thomas Hieke wies vor einigen Jahren in einer Veröffentlichung darauf hn, dass der Psalm im Kontext des Auferstehungsglauben somit eine weitergehende Bedeutung erhalte: nicht nur Errettung vor dem Tod, sondern im Tod Rettung über das Grab hinaus ins ewige Leben. Aus dem "Aushauchen" des Geistes, vom dem Lukas schreibt, werde somit ein bewusstes "Übergeben" des Geistes in die Hände Gottes.

Herrad von Landsberg, Hortus Deliciarum
Bild: ©Herrad von Landsberg, Hortus Deliciarum (Dnalor_01, Wikimedia Commons, CC-BY-SA 3.0) (Archivbild)

Die Kreuzigungsszene des Herrad von Landsberg aus dem "Hortus Deliciarum".

Auch in der Kreuzigungsszene des Johannesevangeliums ist davon die Rede, dass über die Kleider Jesu das Los geworfen wird und sie verteilt werden (Joh 19,24; vgl. Ps 22,19). Wie bei Markus und Matthäus wird davon berichtet, dass Jesus etwas zu trinken gereicht bekommt, bei Johannes ist es Essig (Joh 19,29). Damit wird auf eine Stelle aus Psalm 69 angespielt: "Sie gaben mir Gift zu essen, für den Durst reichten sie mir Essig" (Ps 69,22). Johannes lässt Jesus davor "Mich dürstet" sagen (Joh 19,29). In der Exegese gilt das Motiv des Durstes als Bild für die Sehnsucht nach Rettung durch Gott. Schon im Alten Testament beschreibt es die Not der Beter (z.B. Ps 22,16). Auch Jesus durchlebt demnach diese existenzielle Sehnsucht nach der Nähe Gottes. Das alles geschieht, "damit sich die Schrift erfüllte" (Joh 19,28) – Jesus stirbt bei Johannes mit den Worten "Es ist vollbracht!" (Joh 19,30). Er sieht ihn als den, der das Werk der Erlösung schriftgemäß "vollbringt".

Mit ihrer Anknüpfung an Texte des Alten Testaments wollten die Evangelisten deutlich machen, dass Jesus ganz in der Linie der Verheißungen der Bibel Israels steht – und zeigen dabei je unterschiedliche Facetten. Damit ist auch klar, dass die Evangelien nicht unbedingt den Anspruch haben, eine Beschreibung historisch akkurater Tatsachen zu sein. Für sie und ihren Adressatenkreis ist klar: Tod und Auferstehung Jesu überschreiten die Ebene gewöhnlicher Geschichtsschreibung.

Von Matthias Altmann