Wenn sich Rituale wandeln: Ostern in der säkularen Gesellschaft
Alle freuen sich auf die Feiertage, doch der christliche Inhalt des Osterfestes ist für einen großen Teil unserer Gesellschaft längst in den Hintergrund getreten. Die Volkskundlerin Katrin Bauer erforscht, warum und wie wir Feste feiern. Sie sagt: Rituale haben sich schon immer verändert. Gerade in der Corona-Pandemie würde die Frage nach dem Tod und dem, was danach kommt, aber wieder an Bedeutung gewinnen.
Frage: Frau Bauer, Ostern ist das höchste Fest des Christentums – zumindest dem liturgischen Kalender nach. Wenn man in die breite Bevölkerung schaut, rangiert es heute aber deutlich hinter dem Weihnachtsfest. Woran liegt das?
Bauer: Anhand des Osterfests kann man ganz schön nachzeichnen, wie sich die Gesellschaft in den letzten 150 bis 200 Jahren gewandelt hat. Noch bis ins 18. oder 19. Jahrhundert lebten wir hier in Deutschland ja eigentlich in einer durch und durch christlichen Gesellschaft, in der die Kirche alle Bereiche des Lebens bestimmte. Das änderte sich aber mit der Aufklärung und Säkularisation. Die Kirche war seitdem nicht mehr so allgegenwärtig im Alltag der Menschen verankert, was natürlich auch große Auswirkungen auf Rituale und Feste hatte.
Nun war gerade Ostern ein Fest, das bis ins 19. Jahrhundert ganz auf die Feier in der Kirche konzentriert war. Die gesamte Liturgie und das, was in den Gottesdiensten in gewisser Weise "gespielt" wurde, diente dazu, den Menschen die Ostergeschichte zu verdeutlichen. Wenn man sich beispielsweise den Palmsonntag anschaut: Der Palmesel, der in die Kirche gezogen wurde, die Zweige, das waren alles bildliche Darstellungen des Ostergeschehens.
Als die Kirche aber nach und nach zurückgedrängt und die Gesellschaft bürgerlicher wurde, haben diese eng an die Gottesdienste gebundenen Rituale an Bedeutung verloren. In der bürgerlichen Gesellschaft wurden damals andere Werte in den Vordergrund gestellt wie Familie, Gemeinschaft, trautes Zusammensein. Und in diesem Zusammenhang wandelten sich eben auch die Rituale und Bräuche um das Osterfest herum. Zum Beispiel ist der Osterhase als säkulare Gestalt eine Erfindung dieser Zeit, die den Hang zur familiären Feier verdeutlicht.

Die Volkskundlerin Katrin Bauer ist Referentin beim LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte in Bonn. Sie analysiert warum und wie wir Feste feiern, wie sich Rituale verändern und neue entstehen.
Frage: Da war das Weihnachtsfest offenbar leichter anschlussfähig – bis heute wird ja häufig vom "Fest der Liebe" oder eben "Fest der Familie" gesprochen. Gibt es dazu äquivalente Bezeichnungen für das Osterfest?
Bauer: Sie stellen jetzt Weihnachten und Ostern sehr stark gegenüber. Ich glaube aber, wenn man in die heutige Gesellschaft schaut, ist der Unterschied gar nicht mehr so groß. Auch Ostern wird heute immer mehr zu einem Familienfest: Mit Karfreitag und Ostermontag ergibt sich ein langes Wochenende, an dem man sich mit der Familie trifft, an dem man einen Osterbrunch oder ein Festessen macht. Und auch in den Restaurants – selbst jetzt während der Corona-Pandemie noch – werden überall Ostermenüs angeboten.
Ich glaube tatsächlich, dass hier viele innerfamiliäre Rituale stattfinden, die aber im Unterschied zu Weihnachten nicht so stark in die Öffentlichkeit hineingetragen werden. In der Vorweihnachtszeit gibt es die Weihnachtsmärkte oder den Nikolaus, der durch die Innenstädte läuft, also eine deutliche Öffnung in den gesellschaftlichen Raum. Dagegen ist Ostern ein Fest, das heute vor allem im Privaten gefeiert wird, mit Verwandtenbesuchen, kleinen Geschenken oder dem gemeinsamen Eiersuchen im Garten.
Frage: Staatlicherseits wird den Osterfeiertagen ja nach wie vor eine gewisse Sonderrolle eingeräumt, etwa durch das Tanzverbot am Karfreitag. Führt das heute noch dazu, dass sich die Menschen Gedanken über den Inhalt des Osterfests machen – oder bewirkt es eher das Gegenteil?
Bauer: Am Karfreitag erleben wir oft die Diskussion, ob der stille Feiertag noch zeitgemäß ist. Und wenn man die Mehrheit der Gesellschaft betrachtet, vermute ich, dass die ursprüngliche Bedeutung von Ostern größtenteils in den Hintergrund geraten ist. Es gibt schon noch so etwas wie einen Moment des Innehaltens, aber ich bin mir nicht sicher, wie ernst das inhaltlich noch genommen wird. Es gibt natürlich immer noch einen christlich geprägten Teil der Gesellschaft, für den die Rituale rund um das Osterfest eine Rolle spielen. Aber für den größeren Teil dürfte der christliche Inhalt des Fests keine Bedeutung haben.
„Rituale dienen ja den Menschen, und nicht andersrum. Die Gesellschaft wandelt sich ständig und deshalb haben sich auch Rituale schon immer verändert.“
Frage: Ist die Kirche auch selbst schuld, dass ihr Glaube immer weniger verstanden wird und die Gesellschaft sich deshalb neue Rituale sucht?
Bauer: Das ist schwierig zu sagen. Rituale dienen ja den Menschen, und nicht andersrum. Die Gesellschaft wandelt sich ständig und deshalb haben sich auch Rituale schon immer verändert. Insofern weiß ich gar nicht, ob man das immer so kritisch sehen muss. Aber natürlich ist auch die Kirche, wenn man da von Schuld sprechen möchte, ein Stück weit selbst schuld daran, dass sie es irgendwie nicht geschafft hat, ihre Inhalte so zu transportieren, dass sie für eine Mehrheit der Gesellschaft noch attraktiv sind und gelebt werden. Und das gilt ja nicht nur für Ostern, sondern für den Glauben überhaupt.
An Ostern kommt aber noch das Problem dazu, dass es wenig Rituale und Bräuche gibt, die den christlichen Inhalt in den profanen Bereich transportieren. Das ist, wie gesagt, an Weihnachten anders, etwa mit der Krippe, die immer noch relativ weit verbreitet ist und zumindest noch ein Stück weit an den Inhalt des Festes erinnert. Beim Osterfest ist das schwieriger. Da wäre am ehesten noch das Osterei, das an die alte Festbedeutung erinnert. Aber wenn man die Leute fragen würde, wüssten wohl auch hier die wenigsten, um was es geht.
Frage: Was hat es mit den Ostereiern denn auf sich?
Bauer: Den Brauch der Ostereier gibt es ungefähr seit dem 16. Jahrhundert. Ursprünglich hat er etwas mit dem Eierüberschuss aus der Fastenzeit zu tun. Noch bis ins 20. Jahrhundert haben sich weite Teile der Gesellschaft an eine sehr strenge vierzigtägige Fastenzeit gehalten. An Ostern, als man das Fasten wieder brechen durfte, hat man diese Eier dann bunt bemalt und sich gegenseitig geschenkt, etwa die Kinder ihren Taufpaten.

Bunte Ostereier werden heute vor allem als Dekoration verstanden. Ihren ursprünglichen Zusammenhang mit der Fastenzeit und die Deutung als Zeichen der Auferstehung kennen nur noch wenige.
Frage: Beim Stichwort Fastenzeit gibt es ja durchaus noch Anknüpfungspunkte zur säkularen Gesellschaft. Auch Menschen, die sonst nicht religiös sind, nutzen die Zeit mitunter, um sich bewusster zu ernähren oder auf bestimmte Dinge zu verzichten. Kennen sie ähnliche Trends bezüglich des Osterfestes?
Bauer: Ja, ich denke, das sieht man an kleinen Dingen, dass hier und da Palmbuschen aufgestellt oder die Sträucher vor dem Haus mit bunten Eiern geschmückt werden. Aber das wird dann eher als Dekorationselement verstanden und die Frage ist, inwiefern da wirklich eine Botschaft transportiert werden soll. Ostern ist vielmehr einer der Markierungspunkte, die das Jahr gliedern.
Das ist ja auch eine ganz wichtige Funktion dieser Termine wie Weihnachten und Ostern, den Menschen Halt und Orientierung zu geben. Und da helfen eben auch diese ganz kleinen Rituale. Genauso wie bestimmt bei vielen Familien auch heute das Osterlamm auf dem Tisch stehen wird, entweder tatsächlich als Fleisch oder in gebackener Form. Nur ist es eben schwierig zu sagen, wie viel Bedeutung dahinter bewusst transportiert wird.
Frage: Nur etwa ein Fünftel der Deutschen glaubt an die Auferstehung. Klingt der Auferstehungsglaube schlicht zu abenteuerlich, dass die moderne Gesellschaft davon scheinbar nichts mehr wissen will?
Bauer: Vielleicht ist die Kirche mit ihren Ritualen tatsächlich zu weit weg von den Menschen. Trotzdem könnte ich mir vorstellen, dass gerade durch die Corona-Pandemie und die Situation, dass wir wieder viel stärker mit dem Tod konfrontiert sind, die Frage nach dem Tod und dem, was danach kommt, wieder stärker ins Bewusstsein tritt. Das waren ja lange Zeit Themen, die von der Gesellschaft gerne verdrängt wurden. Jetzt in dieser Pandemie-Situation müssen wir uns mit dem ganzen Thema wieder stärker auseinandersetzen. Insofern könnte man vielleicht davon sprechen, dass Ostern in diesem und im letzten Jahr eine so große Bedeutung hat wie schon lange nicht mehr.
Frage: Nehmen Sie denn wahr, dass das Expertenwissen der Kirchen in dieser Ausnahmesituation verstärkt abgerufen wird?
Bauer: Ja schon. Es gab von den Kirchen letztes Jahr viele schöne Angebote für ein "Ostern to go" wie Palmzweige oder besondere Grußbotschaften zum Mitnehmen, und ich hatte den Eindruck, dass viele Menschen diese Symbole gebraucht haben. Genauso hat sich durch die vielen virtuellen Formate gezeigt, wie viele Menschen sich dann doch mal eine Predigt im Internet anschauen. Ich glaube, das sind schon Angebote, die verstärkt genutzt werden. Wie nachhaltig diese Entwicklungen sind, wird sich in den nächsten Jahren nach der Pandemie zeigen.