Cesare Orsenigo – Roms Berichterstatter aus Nazi-Deutschland
Schwach, überfordert und zu NS-freundlich? In der Regel fällt das Urteil über den Apostolischen Nuntius Erzbischof Cesare Orsenigo wenig freundlich aus. Damit tut man ihm aber Unrecht, sagt der Potsdamer Professor für Neuere Geschichte, Thomas Brechenmacher, der das Schriftgut des Vatikan-Diplomaten für die wissenschaftliche Forschung bearbeitet. Cesare Orsenigo starb vor 75 Jahren, am 1. April 1946, im bayrischen Eichstätt.
Orsenigo trat 1930 in große Fußstapfen. Denn sein Vorgänger in Berlin, Eugenio Pacelli, war nach Einschätzung von Brechenmacher eine Ausnahmegestalt im diplomatischen Dienst des Vatikan, Orsenigo hingegen Normalmaß. Pacelli machte Politik als Nuntius, Orsenigo schickte Berichte aus Berlin an das Vatikanische Staatssekretariat und fungierte als Sprachrohr Roms.
Folgenschweres Zusammentreffen
Geboren am 13. Dezember 1873 in dem lombardischen Dorf Valgreghentino nahe Lecco, trat Orsenigo 1892 in Mailand ins Priesterseminar ein und führte danach sein Wunschleben als Priester und Nebenbei-Wissenschaftler. In der berühmten Mailänder Biblioteca Ambrosiana lernte er deren Präfekten, Achille Ratti, kennen. Als dieser 1922 Papst wurde, hatte das auch für Orsenigos Leben dramatische Folgen.
Denn Pius XI. war der Meinung, ein guter Seelsorger könnte ohne Weiteres auch ein guter Diplomat im Dienst der Kirche sein. Und so holte er seinen alten Bekannten Orsenigo als Quereinsteiger in den Diplomatischen Dienst. Historiker Brechenmacher sagt, Tagebuchnotizen Orsenigos aus der Mitte der 1920er Jahre legten den Schluss nahe, dieser habe sich dem Auftrag des Papstes, in die Diplomatenlaufbahn zu wechseln, zwar gehorsam, aber doch nur mit großen inneren Widerständen gefügt.
Ohne vorherige Einweisung in das neue Metier, geschweige denn Sprachkurse, schickte Pius XI. ihn erst in die Niederlande, dann nach Ungarn. Und dann kam die größte Herausforderung: Am 25. April 1930 wurde Orsenigo Apostolischer Nuntius in Deutschland als Nachfolger von Eugenio Pacelli, der Kardinalstaatssekretär wurde und 1939 Papst Pius XII.
In seiner Amtszeit schrieb oder telegrafierte Orsenigo, je nach Ereignislage, mitunter mehrmals täglich nach Rom. "Seine Berichte dokumentieren das Ende der Weimarer Republik und die Geschichte der nationalsozialistischen Diktatur aus dem Blickwinkel der spezifischen Interessen und Wahrnehmungen eines kurialen Diplomaten", sagt Brechenmacher. Nicht nur kirchliche Fragen erörterte er in seinen Depeschen nach Rom, auch allgemeine Themen der Politik.
Im Vatikanischen Apostolischen Archiv (bis Oktober 2019 Vatikanisches Geheimarchiv) sowie im Archiv des Staatssekretariats, das für die Beziehungen Roms zu den Staaten einschlägig ist, werden die Berichte Orsenigos aus Berlin und die Briefe Pacellis nach Berlin verwahrt – ein Corpus von wenigstens 4.000 Stücken. Brechenmacher bereitet das Material auf, das über eine Datenbank abgerufen werden kann. Derzeit ist der komplette kommentierte Textbestand aus der Zeit vom 1. Januar 1933 bis zum 3. Januar 1935 zugänglich, so dass man auch das Material zum Abschluss des Konkordats zwischen dem Reich und dem Heiligen Stuhl im Sommer 1933 abrufen kann.
Der Historiker warnt allerdings davor, einzelne Berichte herauszunehmen, um sie als Beweisstück für oder gegen Orsenigo zu verwenden. Man müsse sie "im Flow" lesen, denn sowohl Orsenigo wie auch Rom hatten nicht sofort ein in Stein gemeißeltes Urteil zu den Nationalsozialisten parat. Im Gegenteil: Wenn man das Material liest, so Brechenmacher, stoße man auf ebenso klare Einschätzungen wie krasse Fehlurteile. Denn die Berichte nach Rom wurden oftmals hektisch unter dem Eindruck der aktuellen Lage geschrieben.
Orsenigos Verhältnis zu den Bischöfen in Deutschland war nicht immer frei von Spannungen. Tatsächlich wurde mehrfach der Ruf laut, vor allem vom Berliner Bischof, Konrad Graf von Preysing, ihn doch abzuberufen. Aber weder Pius XI. noch Pius XII. gingen darauf ein, denn die Angst war groß, dass nach einem möglichen Abzug Orsenigos kein neuer Nuntius mehr akkreditiert werden könnte.
Sein Chef war sein geringstes Problem
So war der Erzbischof 15 Jahre auf der schwierigsten Stelle im Diplomatischen Dienst tätig. Sein mit Sicherheit geringstes Problem: Er hatte einen Chef in Rom, der sein Vorgänger war und auch weiterhin gute Kontakte nach Deutschland pflegte. Auf der anderen Seite stand die nationalsozialistische Regierung, die immer wieder gegen das Konkordat verstieß, Verbrechen gegen die Menschlichkeit beging, den Holocaust organisierte und durchführte sowie ab September 1939 einen Vernichtungskrieg führte.
Von den Bombenangriffen zermürbt, siedelte Orsenigo im Februar 1945 nach Eichstätt um. Dort starb er ein Jahr später.