Mit Bulldozern gegen die Frömmigkeit des Volkes
Am Morgen des 5. April rückten die Bagger an. Die Sowjets räumten einen der heiligen Orte der Litauer ab: den Berg der Kreuze. Einen eigenartigen Ort. Einen rund zehn Meter hohen Hügel mit einem Meer von Kreuzen. Etwa 2.200 sollen es damals gewesen sein, in jenem April 1961, vor 60 Jahren. Zu viele für das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei, dem die christliche Andachtsstätte schon lange ein Dorn im Auge war. Treue Christen und politisch Verfolgte hatten in den Jahren zuvor immer mehr Kreuze hinzugefügt. Nun war es den Machthabern genug.
Die Holzkreuze wurden demonstrativ verbrannt, jene aus Metall verschrottet, die aus Stein zerschlagen und vergraben. Doch schon in der folgenden Nacht wurden die ersten neuen gesetzt, danach immer weitere. Mitte der 70er Jahre nahm das Regime mehrere neue Anläufe, zuletzt 1975. Abräumen - und dann zuschauen, wie der "Berg der Kreuze" buchstäblich wieder wächst. So machte man sich erst recht lächerlich.
Heute sind die Kreuze ungezählt; ein faszinierendes Monument des Glaubens. Der Berg der Kreuze (Kryziu kalnas) nahe der nordlitauischen Großstadt Siauliai (deutsch Schaulen) ist heute mehrerlei: eine touristische Kuriosität nahe der Fernstraße ins lettische Riga; und das, was er immer schon war: eine Demonstration des Volksglaubens und eine Identitätsstätte der litauischen Nation.
Ein geschichtsträchtiger Ort
Der Ort ist geschichtsgetränkt: Die Schlacht von Schaulen im September 1236 wendete das Blatt zugunsten der Litauer. Die damals noch heidnischen Schemaiten und Livländer schlugen die Kreuzritter des Schwertbrüderordens unter ihrem Herrenmeister Volkwin von Naumburg vernichtend. Volkwin fiel in der Schlacht; die Reste der Schwertbrüder gingen 1237 im Deutschen Orden auf. Der Hügel, der heute der Berg der Kreuze ist, steht auf den Resten einer Mitte des 14. Jahrhunderts zerstörten Burg.
Ein Friedhof ist der Kreuzesort nicht. Zur Entstehung der Tradition gibt es mehrere Legenden. So habe ein Vater am Krankenbett seiner Tochter im Traum den Befehl erhalten, auf diesem Hügel ein Kreuz aufzustellen - die Tochter wurde gesund. Eine andere Geschichte handelt von einem Fürstenstreit: Ein Adliger aus Vilnius habe auf dem Weg zum Prozess das Gelübde abgelegt, hier ein Kreuz zu errichten, sollte er vor Gericht gewinnen. Er errichtete es. In der Neuzeit jedenfalls war der Ort eine Gebetsstätte.
Ein neues Kapitel waren die Aufstände gegen das russische Zarenregime Mitte des 19. Jahrhunderts. Vermutet wird, dass die Bewohner der Region hier Kreuze für ihre getöteten Angehörigen aufstellten, die an unbekanntem Ort verscharrt worden waren. Nach dem livländischen Volksglauben müssen die Geister der Toten irgendwo Ruhe finden können.
Mit der sowjetischen Okkupation wurde der Berg der Kreuze politisch. 1953 kehrten nach Stalins Tod deportierte Litauer aus Sibirien zurück und errichteten hier Kreuze für jene Kameraden, die im Gulag gestorben waren. Alle Versuche der Kommunisten, das Symbol litauischen Widerstands zu unterdrücken, führten nur zu noch mehr Kreuzen. 40.000 sollen es nach der Wende 1990 gewesen sein.
1993 adelte Papst Johannes Paul II. die Stätte endgültig, als er hier mit rund 100.000 Menschen eine Messe feierte und den Bau eines Klosters anregte. Die Betreuung des Ortes übertrug er den Franziskanern. Eine große Christus-Figur, ein Geschenk des Papstes, wurde 1994 am Fuß der Treppe zum Hügel aufgestellt. Nach nur zwei Jahren Bauzeit wurde das Kloster in Form des litauischen Kreuzes im Sommer 2000 geweiht. Vom Fenster der Kapelle bietet sich ein beeindruckender Blick auf jenes Meer an Kreuzen, deren Zahl seither immer weiter, ins scheinbar Unermessliche, wächst.
Ein Meer aus Kreuzen
Selbst wenn der weite Himmel über dem Baltikum wolkenverhangen ist, entfaltet der Ort seine mystische Kraft. Abertausende Kreuze, ineinander verkeilt, übereinander gehängt, in allen Größen, Formen und Materialien. Aus Holz die meisten, fein bemalt, graviert, kunstvoll geschnitzt oder grob aus Brettern zusammengezimmert.
Zuerst sieht man buchstäblich nur den Wald und nicht die einzelnen Bäume. Erst allmählich gewöhnt sich der Geist an den einmaligen Anblick, und es gelingt, die einzelnen Objekte, meterhoch oder zentimeterklein, ineinandergehängt und übereinandergehäuft, als teils ganz individuelle Botschaften wahrzunehmen: Gedenkkreuze für antikommunistische Partisanen; Dank für Genesung oder Kindersegen; von Bikern aus Dortmund, Marienfrömmigkeit aus Polen, Grüße aus Japan, Trauer um eine gestorbene Freundin aus Finnland.
Fest steht: Reisefreiheit, Massentourismus und der Papstbesuch von 1993 haben die heilige Stätte der Litauer quasi internationalisiert. Heute ist es fast selbstverständlich, in Siauliai ein Kreuz aufzustellen. Vor 60 Jahren aber waren die Zeiten hochgradig ideologisch. Nur eine Woche nach der sowjetischen Räumung am Berg der Kreuze startete im April 1961 der Offizier Jurij Gagarin als erster Mensch ins Weltall. Bei seiner Rückkehr spottete er, Gott habe er dort oben nicht getroffen.