Die Geschichte einer besonderen Berufung

Matthias Fraune: Ein Diakon im Rollstuhl

Veröffentlicht am 03.05.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Münster ‐ Diakone und Priester im Rollstuhl – ein seltener Anblick. Denn vielerorts herrscht noch das Bild vom "makellosen" Priester vor. Doch Matthias Fraune ist überzeugt: Auch körperbehinderte Menschen können die Nachfolge Jesu antreten. Wie das gehen kann, zeigt seine Geschichte.

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Das Wort, das Matthias Fraune die ganze Zeit nicht aus dem Kopf geht, ist: Danke. Der 54-Jährige ist erfüllt von tiefer Dankbarkeit. Für den festlichen Gottesdienst im Paulus-Dom in Münster, für den Gesang der Klarissen und dafür, dass er jetzt gesandt ist. Gesandt armen, kranken und traurigen Menschen eine frohe Botschaft zu bringen. Und so wird ihn der Moment, in dem Bischof Felix Genn ihm die Hände auf den Kopf legt und ihn zum Diakon weiht, ein Leben lang begleiten. "Lass unser Herz brennen, wenn Du zu uns redest" – mit diesem Leitwort haben die drei Weihekandidaten ihr Diakonat überschrieben. Und um ein Feuer geht es für Fraune dabei wirklich.

Seit seinem 13. Lebensjahr sitzt Fraune im Rollstuhl. Anfangs tragen ihn seine Mitschüler noch die Treppen des Gymnasiums, das er besucht, hoch. Doch die Krankenkasse teilt Fraune mit, dass bei einem Unfall während des Transports kein Versicherungsschutz bestehe. Also: Schulwechsel. Er geht zur Hauptschule im münsterländischen Laer und schließt sie mit dem Realschulabschluss ab. Anschließend findet er keinen Ausbildungsplatz, ist ein Jahr arbeitslos. Dann klappt es doch noch, aber eine erste Stelle muss er wegen Krampfanfällen abbrechen. Erst im zweiten Anlauf gelingt die Ausbildung: Fraune wird Verwaltungsfachangestellter im Laerer Rathaus – und bleibt für 32 Jahre.

"Matthias, du musst nochmal los!"

Dort würde er vermutlich heute noch arbeiten, wenn nicht schon lange etwas in ihm gebrannt hätte. "Das war kein offenes Feuer, aber eine Glut, die nie erloschen ist", sagt Fraune. Er spürt in sich den Wunsch, Priester zu werden. Vor 35 Jahren meldet er sich das erste Mal beim Priesterseminar. Ihm wird abgesagt. "Die Kirche konnte sich das damals wohl noch nicht so vorstellen", sagt Fraune heute. Das heißt aber nicht, dass er deshalb nichts mehr mit Kirche zu tun haben will, im Gegenteil. Die Liste seiner Tätigkeiten ist lang: In seiner Gemeinde bereitet er Gottesdienste vor, sitzt im Liturgieausschuss, betreut Messdiener und Lektoren, leitet das Heimatarchiv, macht die Öffentlichkeitsarbeit, hilft als Küster und spielt sogar Orgel. Wie man Orgel spielt, wenn man die Pedale des Instruments nicht treten kann? Ganz einfach, man legt die Pedale auf das erste Manuale um. "So habe ich mit der linken Hand die Pedale gespielt und mit der rechten die Melodie auf dem zweiten Manuale. Und keiner hat etwas gemerkt", sagt er ein wenig stolz.

Fraune geht in diesen ehrenamtlichen Aufgaben auf. Doch gleichzeitig weiß er: "Ich habe immer gespürt, dass da eine Kraft ist, die mehr von mir will, die noch etwas mit mir vorhat." Und es gibt Freunde und Bekannte, die ihm immer wieder sagen, dass er nicht aufgeben soll: "Matthias, du musst nochmal los, da brennt doch was in dir!" In der Tat: Die Glut glimmt weiter und will einfach nicht ausgehen. Ein zweites Mal wird er in Münster vorstellig. Wieder eine Absage.

Matthias Fraune in seinem Rollstuhl
Bild: ©Bischöfliche Pressestelle/Achim Pohl

Am 18. April 2021 wurde Matthias Fraune im Paulus-Dom in Münster zusammen mit zwei weiteren Weihekandidaten durch Bischof Felix Genn zum Diakon geweiht.

Auch wenn bei einem ersten Blick auf seine Biografie kaum ein besserer Begriff einfallen möchte: Als Kämpfer sieht sich Fraune keinesfalls. Das sei die falsche Perspektive, die rein menschliche nämlich. Denn wo das Wort "Kämpfer" mutiges Agieren vermittelt, habe er stets nur reagiert auf die Herausforderungen, die das Leben an ihn stellte. Und das Leben sei eben etwas, was nicht nur gut verlaufe. "Gott hat mich nie an den Tiefen des Lebens vorbeigeführt, sondern durch sie hindurch", sagt er. Doch in diesen Tiefen habe Gott ihm immer wieder die Chance gegeben, "Leben zu erfahren, atmen zu können, die Sonne zu sehen – durch Menschen, die er mich hat begegnen lassen". Menschen, die ihn die Treppen der Schule hochtragen, die in ihm das Feuer erkennen, die seinen Wunsch, Priester zu werden, unterstützen.

2012 ist Fraune in Rom. Dort trifft er Klaus Winterkamp, der damals noch Domvikar und heute Generalvikar des Bistums Münster ist. Winterkamp sagt ihm: "Wenn Sie diesen Wunsch weiterhin in sich verspüren, dann melden Sie sich bei mir." Und bei einem weiteren Treffen in Münster: "Für Sie gibt es eigentlich nichts anderes als einen Termin beim Regens."

Ein dritter Besuch – und plötzlich gibt es Hoffnung

Und so wird Fraune zum dritten Mal im Münsteraner Priesterseminar vorstellig – mit der festen Überzeugung, dass ihm auch diesmal wieder abgesagt wird. Doch hinter dessen Mauern hat sich inzwischen etwas getan. Statt einer Absage bekommt er einen Gesprächstermin. Zwei Stunden lang unterhält er sich mit dem Leiter des Priesterseminars. Doch das ist nur der Anfang. Es folgen mehrere Treffen, bei denen es plötzlich ganz konkret wird: Wo kann Fraune eingesetzt werden? Was braucht es an barrierefreien Voraussetzungen? Welcher seelsorgliche Dienst eignet sich am besten für ihn? "Da habe ich ganz große Ohren bekommen", sagt Fraune. Die Glut bekommt neue Nahrung. Aber noch heißt es abwarten. Nach dem letzten Gespräch dauert es einige Tage, dann klingelt das Telefon. Der Regens ist dran: "Herr Fraune, kümmern Sie sich um einen Auflösungsvertrag. Wir nehmen Sie."

Fraune zieht 2016 ins Priesterseminar und spürt dem nun noch einmal intensiver nach, was bisher in ihm geschlummert hat. "Da ist die Glut, die schon immer in mir geglommen hatte, so richtig ausgebrochen und zum Feuer geworden", sagt er, um in der Metapher zu bleiben. Fraune belegt mit anderen Kandidaten den Würzburger Fernkurs Theologie. So einen Kurs hatte er zwar vor 25 Jahren schon einmal gemacht. Doch nach der langen Zeit kann Fraune das Zertifikat von damals nicht mehr finden und belegt den Kurs nochmal. Es sei ja auch ganz gut, das einst Erlernte wieder aufzufrischen.

Der Codex Iuris Canonici schreibt vor, dass der Ortsbischof den Weihekandidaten auf seine psychische und physische Eignung hin prüft (Can. 1029). Ein grundsätzliches Weihehindernis stellen körperliche Behinderungen im Gegensatz zu psychischen Erkrankungen jedoch nicht dar (Can. 1041). "Hinsichtlich der körperlichen Gesundheit gibt es bei mir natürlich Einschränkungen", sagt Fraune. Genau darin erkenne er aber auch eine Chance für seinen Dienst: "Als jemand, der selbst im Rollstuhl sitzt und Erfahrungen mit Krankheit und Schmerzen hat, kann ich den Menschen beistehen, die auf ihren Lebenswegen ebenfalls Leid erfahren haben." Heutzutage spielt der liturgische Dienst des Diakons eine wichtige Rolle in der Kirche. Doch Fraune sieht seine Hauptaufgabe im konkreten Einsatz für den Menschen. Deswegen hat er sich auch zum Krankenhausseelsorger ausbilden lassen.

Das Evangeliar auf dem Ambo, im Hintergrund ein Diakon direkt nach der Weihe in seinem neuen Gewand.
Bild: ©KNA (Symbolbild)

Das Evangeliar auf dem Ambo, im Hintergrund ein Diakon direkt nach der Weihe in seinem neuen Gewand.

Natürlich könnte man jetzt sagen: In Zeiten großen Priestermangels weiht die Kirche eben auch körperbehinderte Männer. Das ist Fraune aber zu oberflächlich. "Ich bin überzeugt, dass auch Menschen in Jesu Nachfolge treten können, die körperliche Mängel haben." Schließlich war Christus auf seinem Kreuzweg auch kein starker Held, sondern ein gepeinigter und erschöpfter Mann. Auch seine Jünger waren nicht ohne Fehler, trotzdem werden sie als Heilige verehrt. "Vielleicht muss es dann auch beim Priesteramt nicht nur um physische Makellosigkeit gehen", sagt Fraune.

Von Rampen und "unterfahrbaren" Altären

Ein Weihekandidat, der im Rollstuhl seine Weihe empfängt, ist in der Kirchengeschichte allerdings noch etwas Neues. In Deutschland gibt es weniger als eine Handvoll mit Fraune vergleichbarer Fälle. Dessen ist er sich bewusst. Das schmälert sein Feuer aber nicht im Geringsten. Er wünscht sich Offenheit vonseiten der Kirche, jeden Einzelfall genau zu prüfen. Wenn sich ein körperbehinderter Mensch berufen fühle, müsse geschaut werden, was konkret möglich ist. "So wie bei mir." Seine Geschichte zeigt, dass es funktionieren kann. "Und das deute ich für mich als Zeichen Gottes", sagt er.

Sein Diakonat leistet Fraune an der Propsteikirche St. Remigius im münsterländischen Borken. Dort hat man sich schon auf ihn vorbereitet. Schließlich braucht er nicht nur eine barrierefreie Wohnung, auch sein neuer Wirkungsort musste auf seine Bedürfnisse angepasst werden. Der Gemeinderaum der Kirche ist mit Rollstuhl befahrbar, auch in die Sakristei kommt Fraune hinein. Den Altarraum erreicht man aber nur über einige Stufen – für den neuen Diakon wird deshalb eine provisorische Rampe installiert. Der Altar selbst war auch Diskussionspunkt, denn in St. Remigius ist er nicht "unterfahrbar". Fraune kann also nicht wie an einen Tisch an ihn heranfahren, sondern muss einen Abstand durch Vorbeugen überbrücken. "Aber ich habe das Glück, dass ich im Oberkörper noch sehr beweglich bin", sagt er, und im Priesterseminar hätten sie das auch geübt. Und ein bisschen kann sich Fraune auch an seinen neuen Wirkungsort anpassen: Sein Rollstuhl ist höhenverstellbar. "Ich kann mich um 30 Zentimeter nach oben fahren, sodass ich gut über den Ambo hinwegschauen kann", sagt er. Dadurch könne er authentisch an dem Ort sein, an dem das Evangelium verkündet und gepredigt werde.

Wenn Matthias Fraune von seiner Weihe zum Diakon erzählt, merkt man seinen Worten die Ergriffenheit an, auch noch nach zwei Wochen. Bischof Genn griff in seiner Predigt das Motto der drei Diakone auf und sprach die Hoffnung aus, dass die Glut in den drei Neugeweihten niemals verglimmen möge. Wer mit Matthias Fraune spricht, der ahnt: Sein Feuer geht so schnell nicht aus. Nach einem Jahr Diakonat soll Pfingsten 2022 die Priesterweihe folgen. Pfingsten, das hat ja auch wieder etwas mit Feuer zu tun.

Von Cornelius Stiegemann